Die Gittertür im Stollen ist geschmückt mit Tannengirlanden und Christbaumkugeln. Nur das Verbotsschild stört die weihnachtliche Stimmung. «Kein öffentlicher Zutritt» steht da. «Das ist leider nötig», sagt Sonja Stöckli (55) während sie das Gittertor öffnet. «Immer wieder versuchen Touristen hereinzukommen.» Hinter dem Tor beginnt die Welt von Sonja Stöckli und Thomas Furter (55). Eine Welt, die der Million Gäste, die jedes Jahr von überall zum Jungfraujoch anreisen, verborgen bleibt.
Seit zweieinhalb Jahren lebt und arbeitet das Paar auf dem Dach des Berner Oberlands. Sie sind Betriebswirte der hochalpinen Forschungsstation und des Sphinx-Observatoriums. Auf 3450 Metern Höhe wird seit 1912 geforscht, in 50 Projekten mit Fokus auf Umwelt- und Klimawissenschaften. «Der Klimawandel ist hier spürbar. Auch für uns», sagt Thomas Furter. «Früher regnete es nie im Sommer. Jetzt kommt das immer wieder vor.»
Mit der Schaufel in den Tag
Das Paar steht meist um sechs Uhr morgens auf. «Wenn es gestürmt hat, müssen wir zuerst Schnee schaufeln», sagt Furter. «Letzten Winter hat es in einer Nacht so stark geschneit, dass die Türen komplett zu waren.» Danach gehen sie ins Wetterstübli – für Meteo Schweiz beobachten sie das Wetter von Auge.
Thomas Furter zückt den Feldstecher: «Nebeldecke auf 1300 Metern, Sicht etwa 100 Kilometer.» Er bestimmt Sichtweite, Wolkentypen, Niederschläge und übermittelt die Infos nach Zürich – fünfmal täglich, alle drei Stunden. «Dafür mussten wir einen zweitägigen Kurs besuchen.» Sie, die gelernte Pflegefachfrau, und er, der gelernte Elektroingenieur, hatten kaum meteorologisches Vorwissen, bevor sie aufs Joch kamen.
Sonja ist in Zürich aufgewachsen und später aufs Land gezogen, ins Toggenburg. Sie hat das KV gemacht, geheiratet und vier Kinder bekommen. «Mit 40 Jahren hatte ich genug von der Bank und hab eine zweite Ausbildung als Pflegefachfrau gemacht.» Thomas ist auf einem Bauernhof in Lütisburg SG aufgewachsen, Elektroingenieur und dreifacher Vater.
Auf einer Wanderung kennengelernt
2015 begegneten sich die beiden Bergfans bei einer Wanderung auf einer SAC-Tour. Im Jahr darauf haben sie sich verliebt. Später entstand der Wunsch, aus dem Alltag auszubrechen und etwas Aussergewöhnliches zu erleben. Sie haben Jobs und Wohnungen gekündigt und sich auf eine Weitwanderung von der mexikanischen bis zur kanadischen Grenze vorbereitet. Doch Corona durchkreuzte ihre Pläne. «Wir sind dann einfach von zu Hause losgelaufen.» Am Ende waren es 2700 Kilometer bis nach Albanien – in fünf Monaten mit Rucksack und Zelt.
Zurück in der Schweiz, bezogen sie erstmals eine gemeinsame Wohnung und starteten wieder in ihren Berufen. «Im gleichen Monat zeigte uns ein Freund die Stellenanzeige auf dem Jungfraujoch. Und uns war klar: Wir müssen es probieren.»
Das Jungfraujoch in Zahlen
–36,6 Grad
betrug die kälteste gemessene Temperatur auf dem Joch. Das war am 6. März 1991. Am wärmsten war es am 19. August 2012 mit 12 Grad.
100 Mal klarer
ist die Luft auf dem Joch, verglichen mit dem Mittelland. Klimaforschende des Paul Scherrer Instituts messen hier seit 17 Jahren die Luftqualität.
14 Minuten
dauert es auf dieser Höhe, bis ein Ei hart gekocht ist.
1'067'000 Menschen
haben 2018 «Top of Europe» besucht – so viele wie in keinem anderen Jahr.
93 Jahre alt
ist die Forschungsstation. In den Anfängen arbeiteten hier vor allem Astronomen und Mediziner, heute Klimaforscherinnen und Meteorologen.
20 Jahre
haben Joan und Martin Fischer bis 2021 auf dem Joch gearbeitet. So lang wie kein anderes Betriebswirtepaar.
Seit vielen Jahrzehnten wird das Jungfraujoch stets von zwei Paaren betreut. Gesucht wurden Leute über 50 mit handwerklichen und technischen Fähigkeiten und guten Englischkenntnissen. Mehr als 50 Paare aus der ganzen Schweiz bewarben sich. «Wir haben nicht wirklich damit gerechnet, aber es hat wohl gepasst», sagt Furter.
Eine Schicht auf dem Berg dauert etwa 17 Tage, den Job teilen sich die beiden mit einem anderen Paar aus dem Kanton Uri. Wenn Stöckli und Furter gehen, kommen die anderen.
Zwischen Schnee und Sternen
Bei seinem Kontrollgang steigt Thomas Furter die Treppen zum Sphinx-Observatorium hinauf. Das Wahrzeichen und der höchste Punkt des Jochs. Doch was verbirgt sich unter der Kuppel? Ein Teleskop – das seit vielen Jahren nicht mehr in Betrieb ist. «Für astrologische Beobachtungen gibt es bessere Orte wie etwa Hawaii oder Südamerika», erklärt er.
Traditionelle Rollenverteilung auf dem Berg
Während er sich ums Technische kümmert, ist seine Partnerin für die Unterkunft der Forschenden zuständig, die zum Joch kommen. Sie kümmert sich um die Wäsche und die Administration sowie kleinere Reparaturen. «Unsere Rollen hier oben sind traditionell, aber es funktioniert gut», sagt Sonja Stöckli.
«Wenn die letzten Touristen gegangen sind, gehört der Berg uns»
Sonja Stöckli
Im Forschungshaus gibt es zwölf Betten für Physiker, Medizinerinnen, Glaziologen, Biologinnen und Handwerker. Je nach Projekt verbringen sie wenige Tage oder mehrere Wochen auf dem Berg. «Oft schlafen sie die ersten Tage nicht gut oder kämpfen mit Kopfschmerzen», erzählt Stöckli. «Wichtig ist, viel zu trinken und sich nicht zu überlasten.»
Abendruhe auf dem Berg
Das Paar ist fast immer zusammen. Sie arbeiten, wohnen und leben zu zweit. Auch ihre Freizeit zu Hause in Flawil SG verbringen sie gemeinsam. Doch für sie passt es. Sie wirken vertraut und respektvoll miteinander. «Wir vermissen nichts, wenn wir auf dem Berg sind. Wenn wir zu Hause sind, haben wir ausreichend Zeit, um all unseren Leidenschaften nachzugehen wie Wandern, Skitouren und Zeit mit Freunden zu verbringen», sagt Thomas Furter.
«Wir vermissen nichts, wenn wir auf dem Berg sind»
Thomas Furter
Wenn die letzten Touristen und Mitarbeiter der Jungfraubahnen weg sind, kehrt Ruhe ein. «Dann gehört der Berg uns. Wir können durch die Stollen laufen, ohne ständig angesprochen zu werden: ‹Excuse me please, excuse me please›», sagt Sonja Stöckli und lacht.
Doch was stets da ist – die geballte Kraft der Natur: «Wir hatten auch schon Wind von 200 Kilometern pro Stunde mit Schneefall – dann gehst du nicht raus.» Auch dann nicht, wenn ein Gewitter aufzieht mit Blitzschlaggefahr und es im Geländer knistert. Aber die Berge können sich auch von ihrer liebevollen Seite zeigen. «Manchmal, wenn die Sonne untergeht und der Horizont rosarot oder goldig leuchtet – unbeschreiblich! Es ist ein Privileg, hier leben zu dürfen.»
An die Höhe haben sie sich gewöhnt. Ihr Hämoglobinwert ist gestiegen, sie haben nun mehr rote Blutkörperchen, da die Luft dünner ist. «Und allgemein merke ich, dass ich fitter bin», sagt Sonja Stöckli. «Um dieses Höhentraining wird uns mancher Sportler beneiden», sagt Thomas Furter.
Wenn ihre Schicht auf dem Joch vorbei ist, verstauen sie ihre persönlichen Gegenstände und die Deko im Schrank, putzen den Backofen und leeren den Kühlschrank. Küche und Stube ihrer 45 Quadratmeter grossen Wohnung teilen sie mit dem anderen Paar. Einzig ein Schlafzimmer mit einem kleine Bad haben sie für sich alleine.
«Wir machen weiter, solange wir gesund sind und Freude daran haben.» Ein Ende ist mit dieser Weitsicht nicht in Sicht.