Was macht ein Jahr in der Antarktis mit einem? «Im Laden vor fünf Sorten Zahnpasta stehen – und völlig überfordert zu sein», sagt Jessica Studer (34) und lacht. Sie sitzt in der Stube ihrer Mutter in Vallamand-Dessus VD, einem Dörfchen mit 300 Einwohnern oberhalb des Murtensees. Draussen spriessen die ersten Blumen, auf den Wiesen weiden Kühe. Morgens grüssen die Nachbarn, abends läuten die Kirchenglocken.
Zwei Herzen schlagen in dieser Brust: Studer studierte klassische Musik und arbeitete als Musiklehrerin, bevor sie an der Uni Bern Medizin studierte.
Kurt ReichenbachZwölf Monate verbrachte die Ärztin an einem Ort, der das genaue Gegen-teil ihrer Heimat ist. Kein Leben, kein Geruch, kein Geräusch – nur das Heulen des Windes. Die Forschungsstation Concordia liegt in der Antarktis auf dem Dome Charlie, einer Eiskuppel auf 3233 Metern Höhe, 1100 Kilometer von der Küste und 1670 vom Südpol entfernt. Neun Monate lebte sie in völliger Isolation, vier Monate dauerte die Polarnacht, und ein warmer Tag hatte minus 50 Grad. «Der Mensch ist nicht dafür gemacht, in einer solchen Umgebung zu überleben», sagt sie. Und doch hat sie genau das getan – an einem Ort, der dem Weltraum ähnlicher ist als jeder andere Ort auf der Erde.
Jessica Studer wurde aus 400 Kandidaten als Ärztin von der Europäischen Weltraumagentur (ESA) ausgewählt, um die Auswirkungen extremer Isolation auf den Menschen zu erforschen – als Vorbereitung für Weltraumreisen. «Mich hat das Extreme schon immer angezogen.»
Als junge Frau träumte Verena Studer (r.) von einer Reise in die Antarktis – bis sie schwanger wurde. Den Plüschpinguin brachte ihr Tochter Jessica mit.
Kurt ReichenbachDer Traum von der Antarktis
Als kleines Mädchen bekam Jessica von ihrer Mutter einen Medizinkoffer für Kinder geschenkt. Von da an wollte sie Ärztin werden. «Aber in unserem kleinen Dorf schien mir das ein fast zu grosser Traum», sagt sie. Sie studierte klassische Musik, schloss mit einem Master in Musik und Pädagogik ab und unterrichtete. Als Pianistin gewann sie Preise und Auszeichnungen. Doch irgendwann merkte sie: Etwas fehlt.
«Ich habe lange überlegt, ob ich noch Medizin studieren sollte. Ich dachte, mit 25 sei ich schon zu alt.» Doch sie wagte es. Da es ihr Zweitstudium war, erhielt sie keine Stipendien. «Ich habe mein Studium selbst finanziert – mit Unterrichten, Orgelspielen und Restaurantjobs.»
Dann bewarb sie sich für die Mission in die Antarktis. Während sie erzählt, hört ihre Mutter zu. «Eigentlich habe ich ihr das eingepflanzt», sagt Verena Studer, 63, und lacht. Als junge Frau hatte sie nämlich den Traum, in die Antarktis zu reisen – als sich noch kaum jemand für den Südkontinent interessierte. Alles war geplant. Doch dann wurde sie schwanger. Die Reise lag auf Eis. «Ich sagte immer: Jessica muss stattdessen für mich hinreisen.»
Heute leidet Verena Studer an MCS (Multiple Chemical Sensitivity). Jede chemische Substanz löst bei ihr schwere allergische Reaktionen aus – Waschmittel, Deo, Parfum. Reisen ist für sie unmöglich geworden.
Als das letzte Flugzeug die Basis verlassen hatte, blieben die 13 Forschende neun Monate lang völlig isoliert zurück.
ESA/PNRA/IPEVLeben auf dem eisigen Planeten
Neun Tage dauerte Anfang 2024 die Reise von der Waadt in die Antarktis. Ende Januar verliess das letzte Flugzeug die Station. 13 Menschen bleiben zurück: Astronomen, Glaziologen, Meteorologen, Techniker – und zwei Ärztinnen. Für sie alle gab es neun Monate keine Möglichkeit, wegzukommen – selbst die Internationale Raumstation im All wäre schneller erreichbar.
«Wir waren wie eine Familie.» Jeder hatte ein eigenes Zimmer, aber sonst war alles gemeinschaftlich – arbeiten, essen, leben. «Konflikte mussten sofort angesprochen werden – aus einer Mücke durfte kein Elefant werden. In der Concordia hat es keinen Platz für Elefanten.» Gegen den Lagerkoller drehte die Crew einen Kurzfilm und veranstaltete eine Weltall-Mottoparty.
Um zu beobachten, wie diverse Körpersysteme – etwa das Herz-Kreislauf-System – oder die kognitiven Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung und Orientierung sich verändern, führte die Forscherin Tests an der Crew, aber auch an sich selbst durch.
Die Polarnacht etwa führte zu einem unberechenbaren Tagesrhythmus. «Der Körper verliert die Orientierung, manche fallen in eine Dunkelheitsdepression.» Nicht so Jessica Studer. «Ich habe die Dunkelheit geliebt – der Sternenhimmel war atemberaubend.» Die dünne Luft auf über 3200 Metern liess die Crew ausser Atem geraten. «Selbst nach einem Jahr war ich noch aus der Puste, wenn ich in den dritten Stock lief.» Nach rund einem halben Jahr kehrte in der Forschungsstation Routine ein. «Genau dann passieren Fehler! Ich habe mir die Fingerbeere am kleinen Finger abgefroren, weil ich nicht richtig aufgepasst hatte.»
Die Resultate der Experimente werden nun ausgewertet, sie dienen der Weltraumforschung, aber auch der Bekämpfung von Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson.
Die Berner Ärztin nimmt beim Astronauten Thomas Pesquet eine Blutprobe. Der Franzose besuchte die Forschenden zu Beginn ihrer Mission.
ESA/PNRA/IPEVKulturschock bei der Rückkehr
Die extreme Isolation brachte auch positive Aspekte. «Man beschäftigt sich wirklich nur mit dem, was man gerade tut. Das bringt Gelassenheit.» Jessica Studer würde jederzeit wieder zurückkehren. «Ich wünsche mir teilweise sogar, wieder in diese Welt entfliehen zu können», gesteht sie.
«Es ist wichtig, an den Träumen festzuhalten.» Ihr nächstes Ziel: die Sterne! Sie will in der Weltraummedizin in den USA arbeiten.
Kurt ReichenbachAls das erste Flugzeug Ende letzten Jahres wieder landete, war es, als käme eine fremde Spezies an. «Wir wurden fast alle sofort krank.» Das Immunsystem hatte sich zurückgebildet, der Körper war nicht mehr an die Aussenwelt gewöhnt. Zurück in Australien, erlebte Jessica Studer einen enormen Kulturschock, verbrachte die ersten drei Tage nur im Hotelzimmer. Der Lärm, die Gerüche, die Menschen – alles war zu viel. «Das Schwierigste an so einer Mission ist nicht das Gehen, sondern das Zurückkommen.»
Inzwischen ist sie zu Hause in der Schweiz, ihr nächstes Ziel: die USA. Dort bereitet sie sich auf eine Zukunft in der Weltraummedizin vor. Nach einem Jahr auf dem weissen Mars fühlt sich die nächste Grenze plötzlich greifbar nah an.