Auf der Strasse würde sich kaum jemand nach Nora, 38, und ihren beiden Brüdern Diego, 39, und Lionel Baldenweg, 42, umdrehen. Dabei sind die drei in ihrem Fach Superstars. Als Filmmusik-Komponisten räumen die Kinder des mit Pfuri, Gorps & Kniri legendär gewordenen Musikers Pfuri Baldenweg, 72, und der Kunstmalerin Marie-Claire Baldenweg, 65, international Preise ab. Mit ihrer Musik zum diesjährigen Filmknüller «Zwingli» sind sie sogar unter den fünf Finalisten für den World Soundtrack Award.
Nora Baldenweg, Sie alle reisen beruflich zwischen Sydney, Los Angeles, London, Paris und Zürich umher. Wie oft sehen Sie Ihre Brüder überhaupt?
Wirklich sehr oft. Nur sind wir meist am Arbeiten. Dann sitzen wir von morgens früh bis spät in die Nacht im Studio und bleiben in unserer kleinen Welt.
Wie muss ich mir Ihre Zusammenarbeit vorstellen?
Lionel Baldenweg: Erst machen wir unsere Hausaufgaben – sechs Wochen pro Jahr besuchen wir nur Filmfestivals: Cannes, Berlin, aber auch Zürich. Dort schauen wir den ganzen Tag lang Filme. Sicher 90 pro Jahr. Das gibt uns ein Gefühl dafür, mit welchen Regisseuren oder Produzenten wir gerne zusammenarbeiten möchten. Erst dann melden wir uns bei jenen, die uns interessieren. Oder es läuft umgekehrt: Ein Projekt wird an uns herangetragen. Und nur wenn wir alle drei Feuer und Flamme sind, machen wirs auch. Wir sind da schweizerisch demokratisch (lacht).
Diego Baldenweg: Wir drei haben ganz verschiedene Vorlieben und Ideen. Das bedeutety einerseits mehr Aufwand, andererseits ist das auch ein Vorteil: Sind wir alle von einem Projekt begeistert, können wir im Endeffekt viel mehr Leute ansprechen.
Lionel: Die Filmindustrie ist ein riesen Business. Wenn man sich nicht gut orientiert, geht man unter. Hat man hingegen einen Fokus, wird es plötzlich zu einer kleinen Branche.
Was passiert, wenn Sie sich für ein neues Projekt entscheiden?
Lionel: Wir ziehen uns zwei bis drei Wochen in unser Studio zurück und brainstormen gemeinsam. Eigentlich wie Kinder, alle Fehler sind erlaubt. Wir überlegen uns Ansätze, Musikideen, welche Sorten Instrumente … Danach können wir auch auf Distanz gut zusammenarbeiten.
Sind Ihre Aufgabenbereiche genau aufgeteilt, oder macht jeder alles?
Diego: Wir waren früher ja mal eine Band, wo jeder alles machte. Von daher haben wir ein kreatives Verständnis. Für einen Film aber reicht das nicht aus. Inzwischen bin ich der Hauptkomponist, Lionel kümmert sich zusätzlich um Organisatorisches. Nora ist das Pendel zwischen uns beiden. Wir kennen uns so gut, dass wir im Voraus wissen, was der andere denkt. Wir arbeiten schon so lange zusammen …
Nora: … 15 Jahre!
Sie sind in einem sehr kreativen Elternhaus aufgewachsen.
Diego: Wir haben viel mit unserem Vater musiziert.
Nora: Jeder von uns spielt mehrere Instrumente. Auch wenn ich meistens sang, Lionel Schlagzeug spielte und Diego Klavier.
Diego: Sogar unsere Mutter, die eigentlich eine Kunstmalerin ist, haben wir damals, als wir in den 90er-Jahren als Familienband auftraten, kurzerhand in eine Bassistin umfunktioniert. (Alle lachen.) Bei uns zu Hause herrschte schon früh die «Alles ist möglich»-Mentalität: einfach mal ausprobieren.
Nora: Diese Mentalität haben wir immer noch – bei jedem Projekt.
«Individualität war uns immer wichtig. Jeder von uns ist sehr verschieden»
Nora Baldenweg
Sie haben Ihre Kreativität sozusagen in Ihrer DNA.
Diego: Sicher die Entdeckungslust und die Faszination für Kreativität. In jede Richtung. Zum Beispiel bei Nora ist das neben der Musik auch die Mode.
Nora: Individualität war uns immer wichtig. Jeder von uns ist sehr verschieden. Doch im Laufe der Jahre haben wir gemerkt, dass genau das unsere grösste Stärke ist.
Inwieweit ist Ihr Vater heute noch in Ihre Arbeit involviert?
Lionel: Nicht mehr in ausführender Funktion, aber wir sehen unsere Eltern sicher fast alle ein bis zwei Wochen.
Nora: Oft, um ihnen zu zeigen, was wir gerade machen. Sie sind unsere ersten Kritiker.
Lionel: Dass wir ein so gutes Team sind, haben wir ihnen zu verdanken. Sie haben uns die Welt gezeigt. In den 80er-Jahren hatten sie den Mut, nach Australien auszuwandern. Aber auch den Mut, uns als Teenager wieder aus der gewohnten Umgebung rauszureissen und zurück in die Schweiz zur Schule zu schicken. Sie waren stets sehr visionär und mutig.
Diego: Das haben wir von ihnen gelernt. Und vor allen, dass man mit ganzem Herzen dabei ist. Egal, was man tut. Wir sind Familienmenschen. Würden wir nicht Musik zusammen machen, könnte es auch sonst was sein.
Wie charakterisieren Sie sich gegenseitig?
Nora: Diego ist der Künstlerisch-Philosophische von uns. Lionel der Analytiker – mit einer grossen Humanität.
Diego: Und Nora ist pragmatisch und emotional, was ihr Objektivität verleiht.
Sie sind seit Jahren erfolgreich, werden aber in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Lionel: Von Leuten, die in der Branche wichtig sind, werden wir sehr gut wahrgenommen.
Nora: … weltweit.
Lionel: Wir sind wie ein Chamäleon und tauchen mit jedem Projekt in eine neue Haut.
Nora: Und erfinden uns stets neu.
Diego: Wir schätzen es auch, eine gewisse Privatsphäre zu haben. Zudem geht ein Zuschauer nicht ins Kino, um explizit die Filmmusik zu hören.
Nora: Ausser vielleicht die beiden berühmtesten Filmkomponisten Hans Zimmer oder John Williams.
Lionel: Der massgebende Kinoerfolg wird nicht dadurch entschieden, wer die Musik gemacht hat. Auch wenn die für den Film selber sehr wichtig ist.
Und doch gibts Filmmusik, die unvergessen bleibt. Und den grösseren Erfolg hatte als der Film selber.
Diego: Das stimmt. Das hängt aber auch mit der Machart zusammen. Viele Filme erlauben es gar nicht mehr, dass die Musik richtig wahrgenommen wird. Weil sie auf Dialogen basieren und auf dem Sounddesign, also Geräuschen wie Autos, Fussschritten, Wäldern. Früher gabs viel mehr Filme mit langen Bild- und Musikpassagen: «Star Wars», «Spiel mir das Lied vom Tod», «Psycho» oder «The Godfather». Das Bild wurde oft der Musik angepasst. Heute bekommen wir vom Regisseur meist einen fertigen Schnitt, und wir passen die Musik dem Film an.
Wie flexibel sind Sie bezüglich Musikstil?
Lionel: Wir machen nicht nur eine Musikrichtung. Das gibt uns viel Freiheit. Man darf sich nicht zu schade sein, auch mal was zu machen, was man persönlich nicht so toll findet. Hauptsache, es passt.
Spielen Sie die Filmmusik auch selbst ein?
Nora: Wenn wir Orchester-Musik einsetzen, spielen wir sicher nicht 100 Instrumente ein.
Lionel: Doch oft machen wir alles selber.
Diego: Aber wir sind zum Beispiel keine Holzbläser. Wenn wir einen Klarinettisten brauchen, suchen wir einen. Unsere Instrumente sind hauptsächlich Klavier, Schlagzeug, Gitarre, Bass, Gesang.
Nora: Bei «Die letzte Pointe» haben wir zum Komponieren erst alles selber eingespielt und dann die ideale Band mit den besten Musikern wie zum Beispiel Pepe Lienhard am Saxofon zusammengestellt.
Ihr letzter grosser Erfolg war die Musik zum Schweizer Film «Zwingli».
Lionel: Ja, unglaublich! Die Musik wurde eben als einer der fünf Finalisten beim World Soundtrack Award nominiert. Und dies obschon der Film nicht mal weltweit gezeigt wurde. Mehr Anerkennung geht gar nicht.
Gibts aktuell was Neues von Ihnen im Kino zu hören?
Lionel: Nicht im Kino, aber auf Netflix! Wir haben die komplette Musik zur brandneuen Serie «The Unlisted» komponiert. Eine australische Produktion. Unsere Chefin war die Produzentin des sechsfach oscarnominierten Films «Lion». Sie hörte unsere Musik im Film «Die kleine Hexe» und war begeistert.
Diego: Unsere erste Netflix-Serie und unser erster Job in Australien, unserer zweiten Heimat. Und wir haben bereits die Anfrage für eine Fortsetzung.
Nora: Das gibt uns Gelegenheit, nebst der Arbeit auch privat mehr Zeit miteinander zu verbringen. Und unsere Kindheitserinnerungen aufleben zu lassen.