Es war einmal ein Königreich, das wählte – schon länger ists her – jedes Jahr eine Prinzessin. Schön musste sie sein. Und in der einen oder anderen Art und Weise das Land repräsentieren. Sie durfte ruhig ein bisschen modern sein. Aber nicht zu sehr. So wie das Königreich selbst halt.
2013 wird Dominique Rinderknecht, heute 31, die Krone aufgesetzt. Sie bietet genau das richtige Mass an Modernität für die Schweiz. Urban, stylish, ein bisschen frech. Aber auch nett, bodenständig, mit einem langjährigen Partner an der Seite. Ihr Miss-Schweiz-Jahr meistert sie skandalfrei, bleibt auch nach ihrem Amtsjahr beliebt und erfolgreich. Ende gut, alles gut.
Als die Ex-Miss sich im September 2016 nach über sechs gemeinsamen Jahren von Goek Gürsoy, 39, trennt – man habe sich auseinandergelebt –, ist die Schweiz zwar erstaunt. Schade. Aber kann passieren. Zwei Monate später platzt die Bombe. Sie ist «es bitzeli verliebt», gibt Dominique zu Proto- koll. In eine Frau. Nicht in irgendeine, sondern in Tamy Glauser, 36, die sich bereits einen Namen als internationales Topmodel gemacht hat, für Frauen- und Männerkleider.
«Was ist denn hier passiert?», fragt sich das Land. Ist die ehemalige Miss Schweiz plötzlich lesbisch? Bisexuell, sagt Dominique und fügt nonchalant hinzu, sie sei schon immer auf Männer und Frauen gestanden – «mich hat halt noch nie jemand danach gefragt».
Fortan gehen die beiden als Tamynique durchs Leben. Bald schon gelten sie als das bekannteste Frauenpaar der Schweiz, werden zu wichtigen Gesichtern für die heimische LGBTQI+-Szene. Und viele, die vorher knapp etwas mit Begriffen wie lesbisch (L), schwul (G für das englische Gay) oder bisexuell (B) anfangen konnten, sind plötzlich mit Worten konfrontiert wie transsexuell (T) – man nimmt sich anders wahr als sein biologisches Geschlecht, queer (Q) – alles, was geschlechtertechnisch von der Norm abweicht, oder intersexuell (I) – wer biologisch kein eindeutiges Geschlecht hat. Und es gibt noch sehr viel mehr in diesem Spektrum, dafür steht das Plus.
Zu dieser Zeit macht Dominique Rinderknecht die Erfahrung, dass das Land, das sie einst zur Prinzessin machte, keine allzu grossen Abweichungen von dem goutiert, was als normal gilt. Sie verliert diverse Modeljobs, weil sie öffentlich eine Frau liebt.
Im November 2020 trennen sich Tamynique nach vier Jahren. Natürlich haben es alle schon immer gewusst. Von heute auf morgen bisexuell – das geht doch nicht. Pansexuell sei sie, erklärt Dominique. Sie fühlt sich zu Menschen hingezogen, egal, welchem Geschlecht sie angehören. Um nach der Trennung etwas Abstand zu gewinnen, reist sie nach Südafrika. Vergangene Woche kehrt sie zurück – und lässt mal wieder eine Bombe platzen. Der südafrikanische Musiker Drew Gage hat sie so begeistert, dass sie sich nach kürzester Zeit verlobt hat, mit einem Mann.
Die Kommentare in den sozialen Medien lassen nicht lange auf sich warten: «Da ist man zwischendurch mal etwas lesbisch und dann, zack, mit einem Mann verlobt.» – «Modelesbisch und mediengeil!» Tatsächlich zeigt aber gerade ihre «Rückkehr» zum männlichen Geschlecht das, wofür Dominique Rinderknecht sich einsetzt: Liebe ist Liebe ist Liebe. Und Gefühle kennen keine Grenzen.
Zweimal pro Woche passieren in der Schweiz laut Schätzungen homophobe Hassdelikte. Die Quote der Suizidversuche ist bei queeren jungen Menschen über fünfmal so hoch wie bei heterosexuellen. Diese Zahlen sind eines echten Königreichs unwürdig.
Vielleicht brauchen wir ein bisschen mehr als einen Hauch Modernität. Vielleicht brauchen wir echten Fortschritt. Und eine Prinzessin, die das Ende des Märchens neu schreibt: «Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie noch heute. Wen, ist total egal.»