«Eins, zwei, DREI, vier», ruft Stéphane Lambiel, während Alexia Paganini
eine Schrittfolge ausführt und auf den dritten Takt die Arme nach oben streckt. Lambiel ist nicht zufrieden. Er zeigt die Bewegung erneut vor – präzis und geschmeidig trotz weiter Trainingshose und dicker Daunenjacke. Alexia repetiert die Sequenz. Acht Mal. Dann nickt Coach Lambiel.
Es ist bitterkalt in der Eishalle von Champéry VS, dem Zuhause von Lambiels Eislaufschule. Die Atmosphäre dennoch warm. Dank Paganini, die immer wieder lächelt und sportliche Höchstschwierigkeiten leicht aussehen lässt. Und dank Lambiel, der seine Trainertätigkeit mit der gleichen Leidenschaft, dem gleichen Perfektionismus und Einsatz ausübt, die ihn früher als Wettkampf- und heute als Showläufer auszeichnen. «Ich bin als Trainer an der Bande fast nervöser als früher bei meinen Wettkämpfen», sagt Lambiel.
Vor sieben Jahren gründete der 35-Jährige seine Eislaufschule. Als der Weltmeister 2014 als TV-Experte den Eiskunstlauf-Wettkampf in Sotschi ohne Schweizer Beteiligung verfolgt, weiss er: «Ich muss nicht in zehn Jahren etwas für den Schweizer Eislauf tun, sondern jetzt.» Ein halbes Jahr später ist die Skating School of Switzerland eröffnet – heute das sportliche Zuhause zahlreicher nationaler und internationaler Eislaufgrössen.
Seit bald zehn Monaten gehört auch die Schweizermeisterin und EM-Vierte Alexia Paganini dazu. Im Mai 2020 ist New York noch die Heimat der schweizerisch-amerikanischen Doppelbürgerin. Ihre Schweizer Eltern – der Vater stammt aus Brusio GR, die Mutter ist gebürtige Niederländerin – wanderten vor 20 Jahren in die USA aus, wo Alexia geboren wurde und aufwuchs. Als New York im kompletten Lockdown ist, erkundigt sich Alexia beim Schweizer Verband, ob sie für ein Trainingslager kommen könnte.
Die Spitzenläufer dürfen zu dieser Zeit im Wallis unter Lambiel trainieren, der als Schweizer Nationalcoach engagiert ist. Die damals 18-Jährige überlegt nicht lange, packt die nötigsten Sachen – Schlittschuhe, Trainings- und Sommerkleider – und fliegt in die Schweiz. «Ich gehe ja bald zurück, oder meine Eltern können mich besuchen», denkt sie damals. Nichts von beidem trifft ein. Da ihre Eltern nur ein Visum und keinen US-Pass besitzen, könnten sie nach Ausreise nicht mehr in die USA zurück. Erst im November gibts ein kurzes Wiedersehen – nach Absage der Grand-Prix-Events gibt Lambiel seiner Schülerin zwei Wochen frei für einen Besuch in den USA.
«Die Atmosphäre ist positiv. Wir arbeiten hart, aber ich habe keine Angst mehr, Fehler zu machen»
Alexia Paganini
Die Zusammenarbeit zwischen Paganini und Lambiel funktioniert allgemein hervorragend. «Sie hat Biss, weiss genau, was sie will. Zudem ist sie reflektiert, hat ihren Körper sehr gut im Griff und kann Korrekturen schnell umsetzen», sagt Lambiel. Und Paganini merkt, dass sie bei Lambiel gar mehr findet, als sie überhaupt gesucht hat. «Die Atmosphäre ist sehr positiv. Wir arbeiten hart, aber ich habe keine Angst mehr, Fehler zu machen.» Die 19-Jährige spricht damit indirekt ihr vorheriges Trainerteam an, das sie stark unter Druck setzte. «Ich realisierte, dass ich wohl mehr aus Angst als aus positiver Motivation leistete.»
Wie viel Druck und Drill braucht es im Leistungssport? Eine wiederkehrende Diskussion, besonders in Kindersportarten wie Kunstturnen und Eiskunstlaufen. «Ich bin streng, indem ich präzis bin mit meinen Korrekturen. Nicht, indem ich laut werde oder die Läufer zusammenstauche», stellt Lambiel klar.
Ein anderes heikles Thema: das Körpergewicht. Klar spiele das Kraft-Last-Verhältnis für die Sprünge eine Rolle, sagt Lambiel. Doch sein Ziel sei nicht, wie weitverbreitet, dass die Läufer möglichst lange ihre Kinderkörper behalten. «Sondern, dass sie schnell ihr Gleichgewicht finden in einem Körper, der ihnen eine lange, gesunde und glückliche Karriere ermöglicht.»
Trotz idealem Umfeld war die Anpassung für Paganini nicht leicht. Von der Millionenmetropole ins beschauliche Bergdorf. Vom behüteten Zuhause mit der Familie zu einem selbstständigen Leben mit eigener Wohnung. Von der Möglichkeit, rund um die Uhr Essen zu bestellen, zu einem einzigen Supermarkt im Ort. «Am Anfang war ich überfordert, mir fehlte die Struktur, und ich hatte Heimweh.» Auch die momentan sportlich ungewisse Situation ist für das Schüler-Trainer-Gespann herausfordernd. Bisher wurden alle Wettkämpfe von Paganini abgesagt. Die WM Ende März in Schweden steht jedoch nach wie vor auf dem Programm.
Auch ohne Wettkämpfe wussten Lambiel und Paganini die Zeit zu nutzen und arbeiteten an Dingen, die im Wettkampfstress zu kurz kommen. Für einen Tapetenwechsel sorgte etwa eine Hip-Hop-Lehrerin, die Paganini half, ihr künstlerisches Potenzial weiter auszuschöpfen. Und statt Programme zu laufen, übte Alexia Vierfachsprünge. Selbst diese Höchstschwierigkeit könnte Coach Lambiel ihr über zehn Jahre nach dem Rücktritt vom Wettkampfsport noch vorzeigen.