Seinen Tod inszenierte «der grösste lebende Cineast» («Libération») wie eine Filmszene. Und als politischen Akt. Er starb bewusst mit Exit, und an seinem Todestag drehte er noch mit einer kompletten Filmcrew ein paar Szenen. Dann sagte Jean-Luc Godard: «Bon, ben, je vous laisse», ging nach Hause, legte sich ins Bett und liess sich das Gift reichen.
Typisch Godard. Er war nicht krank, aber längst hatte er beschlossen, dass er, der Anarchist, Philosoph, Journalist, Zeit- und Filmkritiker selbst entscheiden würde, wann es genug ist. Das in Frankreich verbotene Buch «Selbstmorde, Gebrauchsanweisung» lag auf seinem Tisch. Bis zuletzt ging er noch jeden Tag zum Kiosk Zeitungen kaufen, in seinem Wohnort Rolle VD kannte man ihn als grummelnden, schlecht rasierten Alten mit weisser Igelfrisur, Brille, Zigarre und Gehstock, der mit niemandem ein Wort wechselte.
Er war Motor und Rebell der Nouvelle Vague, «À bout de souffle» mit Jean-Paul Belmondo und «Le Mépris» mit Brigitte Bardot wurden zu Kultfilmen, die nicht nur inhaltlich eine totale Disruption mit allem Bisherigen darstellten. Er kam mit Scripts zum Dreh, die niemand verstand, er selbst auch nicht. Er entschuldigte sich oft. Die Schauspieler mussten improvisieren. Die Schauspielerin Anna Karina spazierte mal verzweifelt am Strand und sagte laut: «Was soll ich machen, ich weiss nicht, was machen», weil sie keine Regieanweisung erhielt. Die Szene wurde in den Film eingebaut und geriet zum tiefgründigen Bild für die Verlorenheit der Jugend.
Eine andere spontane Szene, die Kult wurde – Brigitte Bardot liegt nackt auf dem Bauch und fragt Filmpartner Michel Piccoli in einer Pause: «Und mein Hintern, gefällt dir mein Hintern?» – «Ja», sagt Piccoli. «Und meine Brüste?» – «Ja.» Godard hat die Szene in «Le Mépris» eingebaut.
In Filmsprache und Technik machte er vieles anders. Er warf die Grammatik des Films über den Haufen. In «À bout de souffle», einem Gangsterfilm, erschiesst Michel (Belmondo) einen Polizisten, dann flieht er mit der Geliebten Patricia (Jean Seberg) und wird am Ende von ihr verraten, er sagt sterbend: «C’est dégueulasse.» Seberg antwortet: «Was heisst dégueulasse?» Schluss des Films. Revolutionär war hier vor allem der Schnitt. Die Cutterin des Filmemachers Henri Verneuil ist aus einer privaten Premiere rausgerannt, um ihren Chef anzurufen: «Es braucht keine Übergänge (‹raccords›) mehr!» Eine Neuheit, die viele grosse Regisseure seither beeinflusst hat.
Godard war Schweizer Bürger, er kam in Paris als Sohn eines Schweizer Arztes und einer Bankierstochter zur Welt, er ging in Frankreich zur Schule, aber seit den 1970er-Jahren bewohnte er mit seiner Lebenspartnerin, der Filmemacherin Anne-Marie Miéville, ein Häuschen in Rolle am Genfersee. Mit seinem Tod hat er bewusst der Diskussion über Sterbehilfe neuen Schub gegeben. Die Regierung bastelt in Frankreich gerade an einem neuen Gesetz, das die Sterbehilfe möglich machen soll. Jean-Luc Godard ist nur wenige Tage nach Alain Tanner, dem anderen grossen Schweizer Filmemacher, gestorben: Zwischen den beiden hat es nie gefunkt.