Ekaterina «Katia» Glikman, 42, liebt Wilhelm Tell, begeistert sich aber auch für Albert Schweitzer. Den legendären Schweizer Freiheitskämpfer sieht die Russin täglich, wenn sie aus der Haustür tritt und am Schaffhauser Tellenbrunnen in die Fussgängerzone läuft. Ein Bild des deutsch-französischen Arztes und Philosophen, der mit seinem Motto «Ehrfurcht vor dem Leben» im Gedächtnis vieler Menschen ist, hängt an der Wand ihres Arbeitszimmers. Tell und Schweitzer stehen bei Ekaterina Glikman für zwei Werte, die sie in ihrer Heimat Russland vermisst, seit Putin dort herrscht: Freiheit und Ehrfurcht vor dem Leben.
Ekaterina Glikman, Kosename Katia, ist Journalistin bei der Kreml-kritischen «Nowaja Gaseta», die dreimal wöchentlich erscheint und als wichtigste unabhängige Zeitung in Russland gilt. Ihr Chefredaktor, Dmitri Muratow, 60, wurde für seine Verdienste um die Meinungsfreiheit 2021 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vergangenen Montag setzte «Nowaja Gaseta» das Erscheinen vorläufig aus – bis der Krieg in der Ukraine vorbei ist. «Ein kluger Schritt», sagt Glikman. Die Zeitung sei zum zweiten Mal von der Medienaufsicht Roskomnadsor verwarnt worden. Neben Schliessung und Lizenzentzug drohte auch die Verhaftung von 80 Journalisten-Kollegen in Moskau. «Es ist traurig, nicht weiterarbeiten zu können. Aber wir haben schon so viel erlebt, wir überleben auch das. ‹Nowaja Gaseta› kehrt zurück!»
Katia recherchiert trotzdem weiter. Es geht um Zwangsrekrutierungen in der Volksrepublik Donezk. «Russen jagen dort Männer auf den Strassen, internieren sie und schicken sie als ‹Freiwillige› in den Ukraine-Krieg.» Ein Mann, der sich vor den Häschern versteckt, hat mit ihr Kontakt aufgenommen, von den Gräueln erzählt. «Nachdem wir die Geschichte veröffentlicht hatten, schrieben mir Mütter und Frauen, deren Söhne und Männer ebenfalls zwangsrekrutiert worden waren.» «Nowaja Gaseta» darf nicht von «Krieg» schreiben, mit Berichten wie dem von Katia aber zeigt die Zeitung das durch den Krieg verursachte Leid.
Katia hasst Krieg. Sie ist Pazifistin. Ihr Grossvater, ein stattlicher Mann, war Kriegsgefangener in Deutschland. «Als er befreit wurde, wog er 38 Kilo.» In Katias Augen schimmern Tränen, als sie leise wiederholt: «38 Kilo – das kann sogar ich tragen.» Das Schicksal ihres Opas machte Katia zur Pazifistin. Sie hasst Putin, sie hasst seine Propaganda und was diese mit ihrem Volk gemacht hat. «Es ist sehr einfach, Menschen zu manipulieren, die so viele unverheilte Wunden haben wie die Russen.»
Katia, 1980 im Ural geboren, ist ein Kind der Perestroika. Sie erlebt den von Michail Gorbatschow Mitte der 1980er- Jahre eingeleiteten Prozess zum Umbau des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion hautnah mit. «Es herrschte Medienfreiheit, erstmals gabs Literatur zu Stalins Terror, ich habe alles verschlungen.» Katia studiert schliesslich Journalismus an der berühmten Lomonossow-Universität in Moskau, Russlands grösster Uni. Ihre Eltern sind Wissenschaftler, der Vater Biologe, die Mutter Geologin.
Gegen Putin demonstriert Katia 2001 zum ersten Mal. Er macht damals die Zeitung, für die sie erst ein Jahr arbeitet, dicht. «Es war sein erstes Jahr als Präsident!» Bei «Nowaja Gaseta» stösst die Journalistin zum Investigativ-Team. Sie deckt einen Korruptionsfall um illegale Fischerei und roten Kaviar auf, darin verwickelt sind staatliche Stellen. Als ihr Artikel publiziert wird, lädt sie die Fischereibehörde vor. «Der Chef, ein fieser Mafia-Typ, versuchte, mich einzuschüchtern.» Katias Chef hatte seiner jungen Reporterin vorsichtshalber einen Kollegen mitgeschickt.
Als nicht weniger gefährlich erweist sich ihre Recherche im Kusbass, dem grössten Kohlerevier Sibiriens. Als 150 Bergleute bei einer Explosion tödlich verunglücken, reist die Reporterin hin, um die Witwen zu interviewen. «Sie waren enttäuscht. Weder das Unternehmen noch die Behörden kümmerten sich. Es war unmenschlich, was sie erlebten. Ich war die Erste, die zuhörte, mit ihnen sprach», erinnert sich Katia. Als die Frauen von ihren Liebsten erzählen, fühlt sich Katia mehr als Psychologin denn als Journalistin.
Irgendwann rücken Sicherheitsleute des Bergbauunternehmens an, um die Journalistin beiseitezuschaffen. Doch Katia erfährt die Solidarität der Frauen. «150 von ihnen bildeten einen Schutzschild um mich herum, führten mich sicher vom Werksgelände – und ich entkam der Gefahr.»
Nicht alle, die für «Nowaja Gaseta» arbeiten, haben so viel Glück. Katias erster Chef in der Investigativ-Abteilung, Juri Schtschekotschichin, stirbt 2003 unter mysteriösen Umständen. Medien sprechen damals von einer möglichen Vergiftung. Juris Foto ist eins von sechs, die im Konferenzzimmer der Zeitung an bisher getötete Kolleginnen und Kollegen erinnern.
In der Schweiz fühlt sich Katia sicher. Sie ist in Schaffhausen der Liebe wegen. Ihren Mann Daniel, 45, ebenfalls Journalist, lernt sie vor über drei Jahren in Thailand kennen. Er erobert ihr Herz. Das einer Frau, die von sich sagt: «Ich bin eine Russin mit gebrochenem Herzen.» Doch daran trägt ein anderer Schuld. Sein Name: Wladimir Putin.