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Die Parteichefs und ihre Eltern

«Er war ein tapferes Kind»

Mit sechs erkrankte Balthasar Glättli an Leukämie. Immer an seiner Seite: Mutter Silvia Glättli. Dass er heute Präsident der Grünen ist, findet sie darum staunenswert. Was er von ihr lernte – und sie vom ihm.

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Balthasar Glättli mit Mutter Silvia, 2023

Im Garten hinter dem Haus in Wolfhausen hat Balthasar Glättli früher gespielt, im Biotop hat seine Mutter heute Blumen gepflanzt.

David Biedert

Barfuss öffnet Balthasar Glättli (51) die Haustür. Er ist zu Besuch bei seinen Eltern in Wolfhausen ZH. Hier in diesem Kalkstein-Betonbau ist er mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Kaspar aufgewachsen. Die Eltern Silvia, 79, und Rolf Glättli (80) haben das Haus 1969 gebaut. Sie sind damals ins Zürcher Oberland gezogen, weil sie im Dorf Stellen als Primarlehrer gefunden hatten. In seinem Kinderzimmer im ersten Stock hat Balthasar Glättli viel Zeit verbracht. Aus dem Fenster sah er direkt auf Wiesen und Felder. «Ich habe stundenlang zugeschaut, wie die Landwirte am Arbeiten waren. Ich wollte auch Bauer werden.» Seine Mutter erinnert sich: «Das war Balthasars Welt.» Kurz vor seinem siebten Geburtstag ändert sich alles. Nachdem er immer wieder krank geworden ist, bekommt der Kindergärtner die Diagnose Leukämie. «Da habe ich gelernt, dass sich die Welt mit nur einem Satz verändern kann», sagt Silvia Glättli.

Spielzimmer im Spital

Zweimal verbrachte Balthasar Glättli mehrere Wochen im Kinderspital. «Ich kann mich nur noch an Bruchstücke dieser Zeit erinnern», sagt er. «Etwa, dass ich Rollvenen hatte und nur eine Schwester aus dem OP mir die erste Infusion stecken konnte.» Damals durften Eltern nicht mit ihren Kindern im Spital übernachten. Die Mutter: «Als ich am Tag seines Spitaleintritts spätabends gehen musste, war ich in Tränen aufgelöst. Da sagte Balthasar zu mir: ‹Mami, du musst nicht traurig sein. Du darfst ja morgen wiederkommen.› Er war ein tapferes Kind.» Im Spital wurde der Junge wegen seines schwachen Immunsystems isoliert. Niemand durfte ihn besuchen, ausser die Eltern – mit Masken und Schutzmantel! «Es war eine lange und schwierige Zeit für ihn und uns», erinnert sich Silvia Glättli. «Und ich hatte ja auch noch einen anderen Sohn.» In den ersten zwei Jahren der Primarschule musste Balthasar daheim unterrichtet werden. Er hatte darum nicht viele Freunde, spielte oft für sich, fuhr Velo und las viele Bücher. Nur langsam erholte er sich, sodass er in den ersten zwei Jahren im Gymnasium locker zwei Absenzenheftli füllte.

Balthasar Glättli mit Mutter Silvia, 2023

Balthasar Glättli (l.) feiert seinen neunten Geburtstag mit Bruder Kaspar, Mama Silvia und Vater Rolf.

David Biedert

Am Familientisch der Glättlis war Politik kein grosses Thema. «Wir sprachen höchstens über aktuelle Ereignisse», sagt Silvia Glättli. In der Mittelstufe fängt ihr ältester Sohn plötzlich an, den Politikteil der Tageszeitung zu lesen. «Das erstaunte uns schon etwas. Wir fragten uns, ob er überhaupt versteht, was er da liest.» Mit 16 Jahren gründete Balthasar den Verein WUM – Welt, Umwelt, Mitwelt. «Mich hat damals definitiv nicht der Turnverein interessiert.» Mit dem Verein sammelte er am Dorfmarkt Geld für den Schutz des Regenwalds und zeigte Filme über Frauen im Islam oder Aidskranke. «In der Öffentlichkeit stehen, das hat er nicht von uns, wir leben eher zurückgezogen», sagt Silvia Glättli. Und so sind schliesslich auch die Grünen auf Glättli aufmerksam geworden.

Nach seinem 21. Geburtstag zieht Balthasar Glättli nach Zürich in eine Wohngemeinschaft. Bei einem Besuch der Eltern fragt er die Mutter, ob sie ihm einen Vorhang nähen könne. «Das war aber die einzige Hilfe. Er war sehr selbstständig, konnte sich gut abnabeln und war nicht mehr oft zu Hause.» Glättli studiert Philosophie und Germanistik an der Uni Zürich, bricht das Studium aber ab. «Da haben wir Eltern uns gefragt, ob wir härter hätten durchgreifen sollen», sagt die Mutter. «Aber bei ihm hätte das nichts genützt.» Er gründet mit einem Freund eine IT-Firma, die Eltern unterstützen hie und da mit einem finanziellen Zustupf.

Balthasar Glättli mit Mutter Silvia, 2023

Als er zu Hause auszog, bat Balthasar Glättli seine Mutter, Vorhänge für die WG zu nähen. «Das war aber die einzige Hilfe, die er brauchte», sagt Silvia Glättli.

David Biedert

Ein langer Weg

Als Balthasar Glättli vor zwölf Jahren für die Grünen in den Nationalrat gewählt wird, freuen sich die Eltern mit ihm. «Wir haben allen Verwandten und Bekannten in einem Brief empfohlen, ihn zu wählen.» Als Grünen-Präsident will Glättli eine neue Solar-Initiative lancieren. So sollen nicht nur alle Neubauten und frisch renovierten Häuser mit einer Solaranlage ausgestattet werden, sondern mittelfristig alle Häuser in der Schweiz.

Glättli lebt noch immer in der Stadt Zürich, mit seiner Frau, der SP-Nationalrätin Min Li Marti (49) und ihrer fünfjährigen Tochter Ziva. Die Grünen wollen bei den Bundesratswahlen antreten. Der Parteipräsident nimmt sich selbst aber aus dem Rennen. «Ich möchte meine Tochter nicht erst wiedersehen, wenn sie 16 ist.»

Die Eltern mussten in den letzten Jahren einige gesundheitliche Schläge hinnehmen, der Vater leidet an Parkinson. «Aber auch wenn wir Balthasar nicht mehr so oft sehen, wissen wir, dass wir uns auf ihn verlassen können. Er ist da, wenn wir ihn brauchen.» Genauso wie sie früher für ihn. Balthasar Glättli weiss um die Bedeutung von Achtsamkeit im Umgang miteinander. «Von meinen Eltern habe ich immer das Gefühl bekommen, dass mein Leben ein kostbares ist. Das hat mich gestärkt.» Ihr Grundsatz der Erziehung fasst Mutter Glättli so zusammen: «Wir setzten für ihn Leitplanken. In diesen hat er sich frei entwickeln können.» Sie sei stolz auf ihren Sohn. «Er hatte einen so schwierigen Start ins Leben, hatte nie die optimalen physischen Bedingungen. Dass er diesen Weg zurückgelegt hat, ist für uns Eltern staunenswert und beeindruckend.»

SD
Silvana DegondaMehr erfahren
Von Silvana Degonda am 24. September 2023 - 08:00 Uhr