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Mario Botta über die Begegnung mit Le Corbusier

«Er wirkte prophetisch auf mich»

Vor 60 Jahren verstarb Le Corbusier (1887–1965). Sein grosser Bewunderer ist Mario Botta. Als Architekturstudent begegnete er dem schweizerisch-französischen Künstler-Architekten und arbeitete in dessen Ateliers.

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Botta vor dem Wandbild «Habiter» (Reproduktion), 1937 geschaffen für den Pavillon des Temps Nouveaux der Weltfachausstellung Paris.

Botta vor dem Wandbild «Habiter» (Reproduktion), 1937 geschaffen für den Pavillon des Temps Nouveaux der Weltfachausstellung Paris.

Remo Buess

Aufregung und Neugierde waren riesig, als wir von Le Corbusiers Ankunft erfuhren», erzählt der bekannte Tessiner Architekt Mario Botta (81). Als Studienanfänger am Universitätsinstitut für Architektur in Venedig begegnete er dem «grossen» Le Corbusier alias Charles-Édouard Jeanneret persönlich. Dieser präsentierte im April 1965 sein aktuelles Projekt: das neue städtische Spital von San Giobbe. Teilweise auf Pfeilern übers Wasser gebaut, sollte der Stahlbetonbau einen markanten zeitgenössischen Kontrast am Rand der altehrwürdigen Lagunenstadt bilden. «Seine Vision war ebenso genial wie radikal», schwärmt Botta und ergänzt: «Le Corbusier wirkte sofort prophetisch auf mich.»

Die auf Stirnhöhe platzierte Brille mit runden Gläsern ist das Markenzeichen des Tessiner Architekten Mario Botta.

Die auf Stirnhöhe platzierte Brille mit runden Gläsern ist das Markenzeichen des Tessiner Architekten Mario Botta.

Remo Buess

Bottas Ziel war es, einen Praktikumsplatz beim international bedeutenden Künstler-Architekten zu ergattern. Von der Tatsache, dass dieser als pedantischer Lehrmeister mit höchsten Ansprüchen galt, liess er sich ebenso wenig abschrecken wie von der Einschätzung seines Professors Giuseppe Mazzariol, der in die Projektplanung einbezogen war und den «Jahrhundertarchitekten» persönlich kannte: «Ein Praktikum bei Le Corbusier? Streich dir das aus dem Kopf!»

Trotzdem stellte Mazzariol Botta ein Empfehlungsschreiben aus. Mit diesem in der Hand wurde der Student bei Le Corbusiers engsten Mitarbeitern Guillermo Jullian de la Fuente und José Oubrerie vorstellig. Sie waren von ihrem Patron mit dem Aufbau des venezianischen Projektateliers beauftragt. «Meine ganze Hoffnung lag in einem Job als einfacher Werkstattjunge. Ich hätte sogar täglich auf Knien den Atelierboden geschrubbt», versichert Botta. Das Glück war auf seiner Seite: Ab sofort fand er sich inmitten der umtriebigen Atelierplanungen.

Mario Botta schwelgt in Erinnerungen und zeigt Fotos von ihm als Schüler im Pariser Le-Corbusier-Atelier.

Mario Botta schwelgt in Erinnerungen und zeigt Fotos von ihm als Schüler im Pariser Le-Corbusier-Atelier.

Remo Buess

Der «Picasso der Architektur»

Botta erläutert seine Bewunderung für «Corbu» während eines exklusiven Rundgangs durch die aktuelle Ausstellung im Zentrum Paul Klee in Bern. Sie zeigt, wie vielseitig, produktiv und kreativ der Architekt, Maler, Zeichner, Bildhauer und Designer war. «Der Stellenwert Le Corbusiers für die Architektur ist gleichbedeutend mit dem Picassos innerhalb der bildenden Kunst», so Botta.

Ergänzend zu den oben erwähnten «Experimentierfeldern» im «Atelier der geduldigen Forschung», wie Le Corbusier seinen Kreativprozess umschrieb, war der in La Chaux-de-Fonds geborene Wahlfranzose auch Visionär, Theoretiker, Stadtplaner, Autor und Denker. «Wir anderen sind verglichen mit der Weitsicht Le Corbusiers ein Nichts – ‹una miseria›», urteilt Botta über seine Berufszunft.

Der schweizerisch-französischer Architekt Le Corbusier.

Der schweizerisch-französischer Architekt Le Corbusier.

Remo Buess

Beim Stichwort «weitsichtiges Denken» driftete «Corbu» allerdings auch in Gefilde ab, die seinem glanzvollen Image eine braun-schwarze Patina verliehen haben: Da Le Corbusier, dem Opportunismus nicht fremd, nachweislich mit faschistischem Gedankengut sympathisierte und sich im Zweiten Weltkrieg dem Vichy-Regime anbiederte, gilt er heute auch als umstrittene Persönlichkeit. Auf diesen «Makel» im Gesamtbild seines Architekturidols angesprochen, antwortet Botta für einmal kurz angebunden: «Diese Kritik ist eine ideologische Spitzfindigkeit.»

Die der bildenden Kunst gewidmete Ausstellungshälfte interessiert Botta derweil besonders. Semiabstrakte farbige Leinwandgemälde und Zeichnungen in verschiedensten Techniken säumen die Wände. Als Wegbereiter der architektonischen Moderne war Le Corbusier einer der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Als solcher ist er entsprechend vielen geläufig. Bekannt ist er auch als Designer – wobei unter den nach ihm benannten LC-Möbelklassikern einige massgeblich der Architektin und Designerin Charlotte Perriand zuzuschrei-ben sind. Dass Le Corbusier auch als bildender Künstler ambitioniert und entsprechend produktiv war, ist hingegen weniger verbreitet. «Auf der Suche nach den Geheimnissen der Form» griff er fast täglich zu Pinsel und Zeichenstift.

Die Zeit des nach wie vor agilen Mario Botta reicht nicht aus, um alle Exponate zu studieren. Den auf die Architektur fokussierten Teil der Schau lässt er vorerst aus. Seinen Architekturfavoriten aus der Hand von Le Corbusier verrät er dennoch: die 1950 gebaute Kirche Notre-Dame-du-Haut. Im Kontrast zu vielen streng geometrisch-kubischen Bauten Le Corbusiers ist dieser Sakralbau, dessen dynamisch-organisches Dach von einer am Strand gefundenen Krabbenschale inspiriert ist, fast schon poetisch. Die Kirche gehört zusammen mit 16 weiteren Architekturwerken Le Corbusiers seit 2016 zum Unesco-Welterbe.

Die Kirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp ist Bottas Favorit unter den Bauten von Le Corbusier.

Die Kirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp ist Bottas Favorit unter den Bauten von Le Corbusier.

Remo Buess

Am 27. August 1965 ertrank Le Corbusier an der Küste von Roquebrune-Cap-Martin. Der Ort hält ihn bis heute fest umklammert, wie der Dokumentarfilm «E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer» (2024) zeigt: Im französischen Küstenstädtchen baute die irische Designerin und Architektin Eileen Gray im Jahr 1929 für sich und ihren Partner Jean Badovici die Villa «E.1027», ein Vorzeigebeispiel der internationalen Moderne. Nach der Trennung des Paars überliess Gray das Haus Badovici. Dessen Freund Le Corbusier war von der stilvollen Eleganz der Avantgarde-Villa dermassen fasziniert, ja neidvoll besessen, dass er sie im Innern mit acht grossformatigen farbigen Wandbildern «markierte wie ein Hund, der an einen Baum pinkelt», so der Tenor derjenigen, die Eileen Grays Entsetzen über den «phallokratischen Akt» teilen.

Die zeitlebens zurückhaltende Frau empfand die – notabene splitternackt ausgeführte und fotografisch dokumentierte – «Befleckung» ihres dezenten Kunstwerks als Vandalismus. Dass Le Corbusier der Villa seinen «machistischen Duftstempel» aufdrückte, ist für viele entsprechend stossend, während andere bis heute erfolgreich für den Erhalt der bunten Malereien einstehen. Botta schlägt einen Kompromiss zur Schlichtung des Fachstreits vor: «Warum nicht blickdichte weisse Leinwände direkt vor den Gemälden mobil anbringen? Grays originäre Raumvision wäre wieder ungestört erlebbar. Die Wandbilder blieben – vor Licht geschützt – erhalten und könnten auf Nachfrage jederzeit gezeigt werden.»

«Meisterprophet» mit Visionen

Zurück nach Venedig ins Jahr 1965. Le Corbusiers überraschender Tod im Meer legte die Arbeiten vor Ort auf Eis. Das Projektatelier konnte nicht wie geplant eröffnet werden, und der auf September vorgesehene Praktikumsstart Bottas fiel ins Wasser. Als Ersatz durfte der Student jedoch schon bald eine sechsmonatige Lehrzeit in Le Corbusiers Architekturatelier in Paris antreten, wo de la Fuente und Oubrerie die laufenden Projekte ganz im Sinn ihres verstorbenen Patrons in klösterlicher Strenge weiterführten. «Der nach wie vor omnipräsente ‹Geist Corbu› wachte stets über uns und unsere Arbeit», scherzt Botta.

Ein abstraktes Gemälde Le Corbusiers im Visier: Die bildende Kunst in der Ausstellung interessiert Mario Botta besonders.

Ein abstraktes Gemälde Le Corbusiers im Visier: Die bildende Kunst in der Ausstellung interessiert Mario Botta besonders.

Remo Buess
Schau zum 60. Todestag

Mit der umfassenden Ausstellung «Le Corbusier. Die Ordnung der Dinge» (bis 22. Juni 2025) zum 60. Todestag des bedeutenden Künstler-Architekten begeht das Zentrum Paul Klee in Bern zugleich sein 20-Jahr-Jubiläum. zpk.org

Genützt hat dies wenig: Das Spitalprojekt kam nach ein paar Monaten definitiv zum Erliegen. «So faszinierend ‹Corbus› Vision auch war, enthielt sie doch auch kaum umsetzbare Elemente in einer Stadt wie Venedig», muss Botta eingestehen. Die Tatsache, dass viele städtebaulichen Visionen Le Corbusiers nie realisiert worden sind, lag mitunter daran, dass sie schlicht zu radikal, ja zu utopisch waren. Ein bekanntes Beispiel ist der «Plan Voisin» von 1925 für Paris, der den Abbruch historischer Quartiere zur Folge gehabt hätte.
 

Vor dem Plakat am Eingang der Le-Corbusier-Ausstellung im Zentrum Paul Klee: Botta zeigt sich überrascht vom Umfang der Schau.

Vor dem Plakat am Eingang der Le-Corbusier-Ausstellung im Zentrum Paul Klee: Botta zeigt sich überrascht vom Umfang der Schau.

Remo Buess

Und so endete Mario Bottas Lehrzeit in den Le-Corbusier-Ateliers nach einem intensiven, ihn persönlich wie beruflich prägenden Jahr. Doch die Erinnerungen an einen bewegten Lebensabschnitt und die Hochachtung gegenüber seinem «Meisterpropheten» («maestro-profeta»), wie Botta Le Corbusier gern bezeichnet, blieben ihm bis heute erhalten. Trotz aller Bewunderung habe Le Corbusiers Werk sein eigenes Schaffen nicht direkt inspiriert. «Ich wählte von Anfang an eine andere Sprache», so Botta.

Text: Murielle Schlup

am 29. März 2025 - 15:00 Uhr