Halbe Sachen gibts bei Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (55) keine. Schon gar nicht beim Fondue. Als der Kellner im Restaurant in Châtel-St-Denis FR ihm und seiner Frau ein Moitié-moitié vorschlägt, schüttelt Maillard den Kopf. «Wir nehmen nur Vacherin.» Dann checkt er sein Handy. «Aha, die SVP braucht an ihrer Delegiertenversammlung den Auftritt von zwei Bundesräten, damit die Basis die 13. AHV-Rente ablehnt.»
Eine Woche zuvor erklärte Maillard der gleichen Klientel an der Albisgüetli-Tagung, warum die AHV mit einer 13. Rente nicht bankrottgeht. «Einige flüsterten mir zu, sie würden dann schon Ja stimmen», sagt er lächelnd und spiesst Brot auf die Gabel.
Der gross gewachsene Waadtländer SP-Ständerat zieht nicht nur bei der AHV die Fäden. Im EU-Dossier hat der Chef des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB de facto eine Vetomacht. Im Juni will er mit einer Initiative die Krankassenprämien deckeln. Und im September führt er das Referendum für die Pensionskassen an. «Es ist ein Kampfjahr. Umso mehr geniesse ich Nachmittage wie heute.»
Dass ihr Mann derart im Scheinwerferlicht steht, ist für Enrica Maillard-Voegeli (52) kein Problem: «Ich wusste, worauf ich mich einlasse.» Die beiden lernen sich zwar schon während des Studiums an der Uni Lausanne kennen, ein Paar werden sie aber erst 2001, als Maillard bereits im Nationalrat sitzt. «Es ist wie in der Politik – manchmal braucht es Zeit, bis etwas Gutes zustande kommt», sagt er.
Seine Frau kennt ihn besser
Die Luzernerin, die am Gymi in Lausanne VD Deutsch unterrichtet, überzeugt ihren Mann 2018, für die Nachfolge von Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner zu kandidieren. Damals sitzt Maillard seit 15 Jahren in der Waadtländer Regierung. «Ich dachte, ich könnte es danach ruhiger angehen.»
Doch seine Frau kenne ihn besser. «Ich wusste, du wirst verrückt, wenn du nichts Anspruchsvolles machen kannst», sagt sie. Er nickt. «Als ich am zweiten Tag nach dem Regierungsaustritt schon um zehn Uhr das TV anstellte, wusste ich: Enrica hat recht.»
Mit ihr, einer 14-jährigen Tochter und einem 16-jährigen Sohn lebt Maillard in einem Häuschen im Arbeiterquartier von Renens westlich von Lausanne. Am Samstagmorgen trifft man ihn auf dem Marktplatz, wo er Vacherin beim Portugiesen und Saucisson beim Italiener kauft. Überall schüttelt er Hände, spricht über den Verkehr im Quartier, regionalen Käse oder Ferien in Kroatien. Der Inhaber eines Blumengeschäfts – «ein FDPler», wie Maillard betont – klagt, dass am Ende des Monats immer weniger Geld im Kässeli bleibe.
Das ist Maillards Stichwort. «Sehen Sie: Mit 2000 Franken pro Monat Durchschnittsrente kann niemand leben!» Jedes Argument, das man gegen die 13. AHV aufbringt, kontert er sekundenschnell. Die 4 Milliarden Kosten? «Zu pessimistisch. Die AHV macht in den nächsten Jahren bis zu 3,4 Milliarden Gewinn.»
Die Jungen, die alles finanzieren? «Auch sie werden alt und profitieren.» Die 80 Prozent Pensionierten, denen es gut geht? «Nur wenn alle die 13. Rente bekommen, hat auch der Mittelstand etwas davon.» Es folgt ein erschöpfend langer Monolog zur schwindenden Kaufkraft.
Grossvater war bei der SVP
«Pierre-Yves ist zäh, wenn es ums Verhandeln geht. Hat man mit ihm aber einen Kompromiss gefunden, ist er loyal», sagt Pascal Broulis, FDP-Ständerat und langjähriger Weggefährte. Maillard sei ein Gewerkschafter, der den Wert eines Frankens noch kenne. Obwohl er heute zu den Gutverdienern gehört – Maillards Antwort auf die Frage nach seinem Antrieb ist klar: «die Ungerechtigkeit.»
Er wächst als Sohn eines Garagisten und einer Fabrikarbeiterin in Lausanne auf. «Bei uns zu Hause gab es drei Bücher: den Dictionnaire, das Telefonbuch und die Bibel.» Pierre-Yves ist ein scheuer Junge, spricht nur wenig. Besonders gern ist er beim Grossvater, einem Bauern, der für die BGB, die Vorgängerin der SVP, im Kantonsrat sitzt. «Er war ein Verfechter der Sozialversicherungen.»
Als Erster in der Familie kann Maillard zur Uni. Dort spürt er die Zweiklassengesellschaft besonders stark – und findet so seine Stimme. Nach einigen Jahren als Lehrer, Gemeinde- und Kantonsrat steigt er als Regionalleiter bei der Metallgewerkschaft ein.
Heute ist Maillard als oberster Gewerkschafter so mächtig, dass sein Spitzname «Pym» in Anspielung auf die Herrscher in Nordkorea schon in «Pym Il Sung» umgewandelt wurde. «Ich finde das lustig», sagt Maillard, der zur Entspannung Rock von Metallica oder AC/DC hört. Seine Macht redet er klein. «In der Schweiz liegt die Macht beim Volk.»
«Stelle mich auf Seite der Kinder»
Forsch auftreten kann Pym auf dem Fussballplatz beziehungsweise an der Seitenlinie. Dort steht Maillard, der wegen seiner Knie nur noch im FC Nationalrat stürmt, am Wochenende, wenn seine Tochter oder sein Sohn Match haben. «Meine Tochter spielt manchmal gegen Jungs. Wenn diese unfair reingrätschen, weil die Mädchen besser spielen, werde ich laut.»
An diesem Samstag gewinnt das Team seiner Tochter, sie trägt einen Assist bei. «Gut gespielt. Aber gell, du kannst auch mal direkt aufs Tor schiessen.»
Obwohl ihr Mann überall engagiert ist, sei er stets ein präsenter Vater gewesen, sagt Enrica Maillard nach dem Fondue. Zu Hause sei er alles andere als streng. «Ich stelle mich häufig auf die Seite der Kinder, zum Leid meiner Frau», sagt er und hält seine Hände vors Gesicht.
Dann klingelt sein Telefon. Der Fussballklub von Renens. Maillard: «Sie renovieren das Stadion, und die Kin- der haben ein Jahr lang kaum einen Ort zum Spielen. Da muss ich helfen!»