«New York war schon immer meine absolute Lieblingsstadt, in der ich leben wollte.» Petra Biondina Volpe, 50, steht auf dem Dach ihres Brownstone-Hauses in Brooklyn. Sie strotzt vor Energie. «Die Stadt pusht einen.» Der Liebe wegen und mit einer Greencard ist die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin vor sechs Jahren nach New York gezogen. Während der Pandemie lebt sie mit ihrem einheimischen Ehemann Thierry, 49, dessen Zwillingstöchtern Meital und Dafna, 14, und Hündin Delphine, 1, hier. Sonst pendelt die Regisseurin von «Die göttliche Ordnung» regelmässig nach Berlin zu ihrem Zweitwohnsitz.
Petra Volpe, wie sieht Ihr Alltag im Big Apple aus? Anders als vor der Pandemie. Damals ging ich ins Gym, hatte einen Büroplatz in einem Frauenklub, traf Freunde. Seit einem Jahr ist jeder Tag gleich: aufstehen, mit Delphine eine Stunde in den Park, im Wohnzimmer Pilates oder Yoga, meist mit Delphine, sie findet das lustig und will spielen. Dann Arbeit, zurzeit bin ich am Schreiben und Recherchieren.
Und am Abend? Um 17 Uhr mit Delphine raus, dann Cocktail Hour und kochen. Später Serien und Filme schauen oder lesen. Früher gingen wir viel raus: Jazzkonzerte, Kino, Theater, Ausstellungen – alles, was so toll ist in New York!
Geben Sie uns ein paar Filmtipps. «Ted Lasso» und «One Night in Miami».
Wer macht was im Haushalt? Mein Mann Thierry, Director of Analytics bei einem Pharmaunternehmen, hat mehr Talent für die Wäsche. Bei mir kommts nicht selten vor, dass etwas verfärbt oder geschrumpft aus der Maschine kommt. Thierry kann auch gut bügeln. Ich koche, das liegt mir im Blut.
«Die ‹New York Times› berichtete über den Frauenstreik. Da war ich mächtig stolz auf meine Schweizer Schwestern!«
1997 zogen Sie weg aus der Schweiz. Haben Sie Heimweh? Manchmal. In der Schweiz läuft alles so rund und geordnet, die Natur ist wunderschön. Oft wünsche ich mir, mich schnell zu meinen Eltern im Aargau beamen zu können, mein Papa macht so prima Gnocchi! Wegen Corona bin ich ständig in Sorge um die beiden. Klar nehme ich an eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen teil. In meinen Filmen beschäftige ich mich intensiv mit meiner Heimat, die räumliche Distanz hilft da sogar. Es gibt noch viele Geschichten zu erzählen in der Schweiz!
Ihr aktuelles Filmprojekt? Ich arbeite an einem Schweizer Kinofilm, einer Komödie, die ich voraussichtlich dieses Jahr in der Schweiz drehen werde. Ich bin auch am Casten von einem Drama, das in einem amerikanischen Männergefängnis spielt. Ausserdem recherchiere ich zu mehreren anderen Stoffen.
Wovon handelt die Komödie? Der Arbeitstitel ist «65». Es geht um ein Paar, das pensioniert wird. Die Darstellerinnen können keine Corona-Masken tragen, das würde sie vom Spielen abhalten. Der Kinostart ist ungewiss.
Wie erleben Sie Ihre Arbeit in Zeiten von #MeToo? Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass die meisten Blockbuster noch immer vor allem von Männern gemacht werden – und das nicht, weil es keine fähigen Frauen gibt. Doch dank der unermüdlichen politischen Arbeit von Frauen verändert sich endlich etwas. Es geht nur leider sehr langsam vorwärts. Wie alles, was Frauenrechte angeht.
Wie engagieren Sie sich? Ich war in den USA viel mit meinem Film «Die göttliche Ordnung» unterwegs und habe diese Plattform genutzt, um auf die Missstände im Filmbusiness hinzuweisen. Ich bin hier auch Mitglied von Film Fatales, einem Zusammenschluss von Regisseurinnen, die sich gegenseitig unterstützen und viel politische Arbeit leisten.
Wie sexistisch ist Hollywood? Hollywood ist nachweislich das sexistischste Geschäft der Welt, sexistischer noch als das Militär.
Das Frauenstimmrecht in der Schweiz gibts erst seit 50 Jahren. Das ist beschämend! Richtig demokratisch ist die Schweiz erst seit 1971.
War das daheim ein Thema? Nein. Doch meine Mutter hat mir eingebläut, bloss nicht zu früh zu heiraten und Kinder zu kriegen, das sei ein Gefängnis. Das ist noch heute so.
Spricht man Sie auf Ihre Filme an? Immer wieder. «Heidi» und «Die göttliche Ordnung» sind die Filme, die man hier am ehesten kennt. Der erste ist auf Netflix, der andere war hier im Kino zu sehen und ist auf Amazon Prime.
Nach Ihren Erfolgen werden Sie mit Anfragen sicher überhäuft. Meine Filme haben mir besonders in den USA viele Türen geöffnet. Ich bin bei einer sehr guten Agentur untergekommen und habe eine Managerin. In der ersten Zeit habe ich unzählige Treffen gehabt und viele Produzenten kennengelernt. Dutzende Drehbücher wurden mir zugeschickt, das war dann aber ernüchternd. Auch hier wird mit Wasser gekocht, ich habe fast alles abgesagt. Inzwischen habe ich ein paar schöne Arbeitsbeziehungen aufgebaut. Ein Standbein werde ich in Europa behalten, ich will ja nicht alle Eier in ein Körbchen legen.
Was hat «Die göttliche Ordnung» ausgelöst? Immer wieder höre ich von jungen Frauen, die durch den Film politisiert wurden. Nach den Vorführungen waren die Zuschauerinnen oft sehr beflügelt und in kämpferischer Stimmung – junge wie alte. Es gab einerseits grosse Dankbarkeit und Wertschätzung, dass diese Geschichte endlich erzählt wird, andererseits hat der Film erneut für das Thema Gleichberechtigung sensibilisiert und Mut gemacht, den Kampf weiterzuführen.
«Es gibt eine Vertrautheit mit der Schweiz, die ich mit den USA nicht habe»
Wodurch wurden Sie für diese Themen sensibilisiert? Als Italiener- und Arbeiterkind wurde ich diskriminiert. Ich habe beobachtet, dass Frauen weniger frei sind, dass sie weniger wichtig genommen werden, dass es total beschränkte Bilder darüber gibt, wie ein Mädchen oder eine Frau zu sein hat. Dass man Frauen gewisse Dinge einfach nicht zutraut. Doch Männer sind genauso in Korsetts und Vorstellungen gefangen. All das macht uns Menschen schmaler und eindimensionaler, als wir sein könnten, auch unsere Beziehungen. Das hat mich schon immer wütend gemacht.
Was fordern Sie? Lohngleichheit, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, also Krippenplätze, Vaterschaftsurlaub, mehr Frauen in der Politik und in den Chefetagen! In der Schweiz wird monatlich eine Frau von ihrem Partner ermordet, das ist inakzeptabel! Das grösste Problem sind die unbewussten und verhärteten Vorurteile und Ideen über Frauen wie auch über Männer.
Was braucht es, um dies endlich zu ändern? Ein hohes Mass an Bewusstheit und Wachheit. Das fängt in der Familie und in den Schulen an. Auch Medien haben eine riesige Verantwortung und die Werbung. Gerade dort trifft man immer wieder auf unterirdisch sexistische Bilder und Sprache. Als Feministin kämpfe ich dafür, dass alle Menschen gleich behandelt werden – doch dort sind wir leider noch lange nicht. Wir müssen weiter laut sein, Forderungen stellen, uns solidarisieren! Und warum nicht mal wieder streiken!