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Exit-Chefin Marion Schafroth

«Es gibt kein Bedürfnis, in einer Kapsel zu sterben»

Nach dem Einsatz der Suizidkapsel Sarco steht die Sterbehilfe in der Schweiz im ­Fokus. Exit-Präsidentin Marion Schafroth sagt, welche Änderungen auf die Branche zukommen – und wann es zu früh ist zum Sterben.

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Exit Chefin Dr. med. Marion Schafroth
Die 64-jährige pensionierte Anästhesistin ist seit fünf Jahren Präsidentin des Sterbehilfevereins Exit. «Beim Sterben dabei zu sein, ist intim und berührend», sagt Marion Schafroth am Hauptsitz in Zürich. Joseph Khakshouri

Etwas verborgen, fernab einer grossen Strasse in Zürich, befindet sich der Hauptsitz von Exit. Hier melden sich Menschen, die das Ende ihres Lebenswegs kommen sehen – oder gar herbeisehnen. Der «Schweizer Sonderweg» bei der Sterbehilfe habe sich bewährt, findet Marion Schafroth, Präsidentin von Exit. Und doch könne man manche Aspekte verbessern.

Frau Schafroth, wie möchten Sie sterben?

Eines natürlichen Todes! (Lacht.) Es ist nicht mein Ziel, durch einen assistierten Suizid aus dem Leben zu scheiden.

Aber Sie schliessen es nicht aus?

Es ist mein Plan B, sollte ich lange und unerträglich leiden. Darüber selbst bestimmen zu können, beruhigt mich sehr.

Als junge Assistenzärztin haben Sie miterlebt, wie Patienten ihr Leben auf anderem Weg beendeten.

Ja. Viermal habe ich mitbekommen, dass ein Patient oder eine Patientin sich im Spital aus einem Fenster stürzte. Offenbar kamen sie mit ihrem Leiden nicht mehr klar – sei es wegen Krebs oder einer anderen chronischen Krankheit.

Und das hat in Ihnen den Gedanken geweckt, dass es Sterbehilfe bräuchte?

Neben diesen dramatischen Suiziden habe ich auch erlebt, dass der Wille von Leidenden am Lebensende nicht immer respektiert wurde. Patientenverfügungen waren damals weitgehend unbekannt. Ich bin Exit beigetreten, weil die Organisation das Recht auf Selbstbestimmung fördert.

2007 wurden Sie dann Konsiliarärztin bei Exit. Was heisst das?

Ist ein Hausarzt nicht bereit, das Rezept für das Sterbemittel Natrium-Pentobarbital auszustellen, vermittelt Exit eine Konsiliarärztin. Als solche führe ich Gespräche mit den Personen, die sich einen assistierten Suizid wünschen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, schreibe ich einen Bericht und stelle das Rezept aus.

Sind Sie bei Sterbebegleitungen dabei?

Ja, manchmal. Kann eine Person das Mittel nicht schlucken, gehe ich – zusätzlich zur Begleitperson von Exit – mit, um eine Infusion zu legen.

Wie fühlt es sich an, im Moment des Sterbens dabei zu sein?

Intim und berührend. Ist die Person noch jung, aber schwer krank, ist die Situation meist sehr traurig. Doch man spürt gleichzeitig die Dankbarkeit darüber, dass jemand auf humane Art von seinem Leiden erlöst wird. Bei hochbetagten Personen, die auf ein langes und erfülltes Leben zurückblicken dürfen, ist die Stimmung eher friedlich-entspannt.

In Schaffhausen ist eine 64-jährige Amerikanerin in der umstrittenen Sterbekapsel Sarco gestorben. Was halten Sie davon?

Vorweg: Ich kann zwar nachvollziehen, dass Menschen aus einem Land, das Sterbehilfe verbietet, in der Schweiz Hilfe suchen und bekommen. Dies ist nichts Neues, und ich möchte dieses Recht grundsätzlich nicht einschränken. Doch rund um Sarco sind die Abläufe bisher noch intransparent. Nach meiner Einschätzung besteht kein Bedürfnis, beim Sterben alleine in einer Kapsel zu liegen. Die für die Untersuchung dieses ersten Sarco-Todesfalls zuständigen Behörden tun nun ihre Arbeit. Und wir sollten zuerst das Resultat des weiteren Verlaufs und der Rechtsprechung abwarten.

Am selben Tag, als Sarco in der Waldhütte angewendet wurde, sagte Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider im Parlament, dass die Suizidkapsel nach Ansicht des Bundes nicht rechtskonform sei. Sind Sie froh, dass der Bund ein Machtwort gesprochen hat?

Frau Bundesrätin Baume-Schneider hat kein Machtwort gesprochen, sondern in der nationalrätlichen Fragestunde die damalige Einschätzung des Bundesrats bekannt gegeben.

Sie organisieren diesen Monat eine Tagung und stellen verschiedene Forderungen auf. Eine davon ist, dass Exit in allen Alters- und Pflegeheimen wirken möchte. Ist das für das Personal nicht schwer aushaltbar?

Ist es nicht eine noch grössere Zumutung für eine Person, ihr Heim zum Sterben verlassen zu müssen? Die Mehrheit der Bevölkerung findet es richtig, dass man dort sterben darf, wo man vorher gelebt hat. Im Alter ist das nun mal oft das Alters- oder Pflegeheim. Und etwa die Hälfte der Altersheime lässt Exit bereits zu.

Aber es ist doch seltsam für die Pflegenden, mitzuerleben, wie diese Person, um die man sich gekümmert hat, im Nebenzimmer den Tod wählt.

Ein Teil der Angestellten kann sich das schwer vorstellen. Für sie braucht es Schulung und Support. Doch bedenken Sie: Egal ob jemand für den Freitod in ein Sterbezimmer muss oder ob er im Heim in Begleitung durch Exit stirbt – das Personal weiss, dass der Bewohner sich für den assistierten Suizid entschieden hat.

Exit Chefin Dr. med. Marion Schafroth

Marion Schafroth möchte, dass Exit künftig in allen Alters- und Pflegeheimen Sterbebegleitungen anbieten kann.

Joseph Khakshouri

Welche Forderungen hat Exit noch?

Ein Tod mit Exit fällt in die Kategorie «aussergewöhnlicher Todesfall». Das ist korrekt und soll so bleiben. Aber es kommt ein Amtsarzt vorbei, der den Körper des Verstorbenen entkleidet, um Gewalteinwirkung auszuschliessen. Je nach Kanton kommt auch jemand von der Spurensicherung und macht Fotos.

Das klingt doch vernünftig.

So viel Aufwand ist nicht nötig. Bei einer Freitodbegleitung mit Exit ist die Identität des Verstorbenen bekannt, die Abklärungen sind gut dokumentiert, und es gibt Zeugen für die Wohlerwogenheit der Tat.

Sind auch schon Personen aus Ihrem eigenen Umfeld mit Exit gestorben?

Nein, jedenfalls niemand aus meinem engen Familien- und Freundeskreis.

In der Schweiz ist der sogenannte Altersfreitod erlaubt. Wann können Sie nachvollziehen, dass eine Person sterben will – obwohl sie gar nicht unheilbar krank ist?

Wenn ich im Gespräch erkenne, dass dieser Entscheid wohlerwogen ist und zum Leben und zum Weltbild der Person passt. Und die Person muss ihre Alternativen kennen und zurückweisen: zum Beispiel ein Umzug ins Pflegeheim oder sich nochmals einer riskanten Operation zu unterziehen.

Sind diese Menschen nicht sehr nervös vor dem Gespräch mit Ihnen?

Tatsächlich sind manche am Anfang sehr angespannt. Dann geht es darum, ihr Vertrauen zu gewinnen, damit sie sich öffnen können.

Wie gehen Sie mit der Verantwortung um?

Man muss wissen, was man tut, und sich dieser Verantwortung bewusst sein. Viel Berufs- und Lebenserfahrung, in Kombination mit Weiterbildung, sorgt für das nötige Know-how. Aber damit das klar ist: Ich entscheide nicht über Leben und Tod.

Sondern?

Der Patient entscheidet darüber. Welche Umstände für einen Menschen noch lebenswert oder unerträglich sind, das ist von Person zu Person sehr verschieden.

Was beobachten Sie, wenn Sie das Sterbemittel verabreichen?

Es ist ein friedliches Einschlafen. Wenige Minuten nach dem Schlucken sagen manche Leute noch «Jetzt merke ich, dass es wirkt» oder «Ich werde müde». Oft gähnen sie, bevor sie in einen Tiefschlaf versinken und weitere Minuten später der Herzstillstand eintritt. Per Infusion geht es schneller, vergleichbar mit der Einleitung einer Narkose.

Haben Sie schon erlebt, dass jemand vor der Verabreichung des Mittels einen Rückzieher machen wollte?

Nein. Und das, obwohl ein Rückzug bis zum letzten Moment möglich ist.

Wie viel Zeit vergeht von der Anmeldung bis zum Tod?

Je nach Situation zwei Wochen bis mehrere Monate – oder bis mehrere Jahre.

Denken Sie als Ärztin manchmal nicht: Vielleicht gibts bald eine neue Therapie, welche diese Person heilen könnte?

Das ist ein wichtiges Thema. Alternativen zum assistierten Suizid müssen mit der Person besprochen werden. Hochbetagte Menschen mögen nicht auf ein Medikament warten, das sich erst in einer Entwicklungs- und Testphase befindet. Für junge Menschen kann das anders sein. Etwa fünfmal habe ich als Konsiliarärztin von einer sterbewilligen Person gefordert, noch eine weitere Therapie zu versuchen.

Was passiert nach dem Tod?

Ich glaube nicht an eine Existenz nach dem Tod, auch nicht in einer vergeistigten Form.

Also kein Gedanke an Himmel und Hölle?

Als Agnostikerin habe keine solchen Gedanken. Doch auch bei gläubigen Christen muss ein assistierter Suizid keine Höllenängste hervorrufen. Man kann doch sagen: Danke, Gott, dass du mir das Leben geschenkt hast. Aber du hast mir auch einen freien Willen gegeben, und jetzt möchte ich dir dieses Geschenk wieder zurückgeben.

Fakten

1252 Freitodbegleitungen hat Exit 2023 durchgeführt, im Schnitt 3,5 pro Tag.

167631 Mitglieder hatte Exit Ende 2023. In den vergangenen drei Jahren stieg die Anzahl der Mitglieder um knapp einen Viertel.

1982 ist der Verein Exit gegründet worden. Mitglied kann werden, wer das Schweizer Bürgerrecht oder einen Schweizer Wohnsitz hat. Dignitas, eine andere Sterbehilfeorganisation der Schweiz, nimmt auch Gesuche aus dem Ausland an.

Lynn Scheurer von Schweizer Illustrierte
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Von Lynn Scheurer am 13. Oktober 2024 - 12:00 Uhr