Direkt nach seinem phänomenalen Auftritt am Eurovision Song Contest sucht Gjon Muharremaj, 22, eine ruhige Ecke hinter der Bühne und telefoniert mit seinem Grosspapa in Kanada. Vor dem Fernseher hat Hamit Leskaj, 74, mit seinem Enkel mitgefiebert und weint nun vor Glück. «Bravo! Ich bin so stolz auf dich! Nun steht dir die Welt offen. Du wirst sie erobern.»
Seinen Erfolg mit Gjon’s Tears am ESC widme er vor allem seinem Grossvater, sagt Gjon, zurück in Broc FR, und nimmt einen Schluck Champagner. «Den hab ich mir verdient. Hier, in meiner freiburgischen Heimat, schmeckt er noch viel besser.»
Gjon rauft sich seine buschigen Haare. «Es war der schönste Tag meines Lebens.» Der Sänger holt am 22. Mai die beste ESC-Platzierung der Schweiz seit 1993: dritter Platz! Mit seiner flirrend-markanten Kopfstimme und dem Lied «Tout l’univers» (Das ganze Universum) singt er sich in die Herzen der weltweit 180 Millionen Menschen, die das Spektakel am TV verfolgen. Unter den 3500 Zuschauerinnen und Zuschauern in der Ahoy-Arena in Rotterdam (NL) sitzen auch Gjons Eltern: Vater Hysni, er stammt aus dem Kosovo, und Mutter Elda, sie ist gebürtige Albanerin. «Ich wollte sie unbedingt dabeihaben», erzählt Gjon, der ihnen Reise und Hotel zahlte.
Mit Unterstützung der Jury und des Publikums holt Gjon insgesamt 432 Punkte. Als er von Albanien die Maximalpunktzahl 12 erhält, macht er mit den Händen die Doppeladler-Geste. «Das war nur ein Dankeschön an Albanien. Ich mache Musik, keine Politik! Es erfüllt mich mit grossem Stolz, dass ich die Schweiz so gut vertreten konnte.» Dass ihn die professionelle Jury gar auf Platz 1 setzte, sei eine riesige Bestätigung für ihn. Zudem wird ihm der Marcel Bezençon Composer Award verliehen – diesen vergeben Musikschaffende an die beste ESC-Komposition.
Den Sieg feiert Gjon samt Entourage in seinem Rotterdamer Hotel. Hier kann er seine überglücklichen Eltern endlich umarmen und mit ihnen anstossen. Mutter Elda hat ihm eine Box Cailler-Pralinés mitgebracht – sie hat früher in der Schoggi-Fabrik gearbeitet. Auch Bundespräsident Guy Parmelin gratuliert dem Schweizer Stimmwunder sofort per Twitter: «Wunderbare Darbietung!» Bundesrat Alain Berset setzt um 1.08 Uhr auf seiner Instagram-Story noch einen drauf – «Bravo», darunter ein Herz. Auch Michael von der Heide, ESC-Teilnehmer 2011, gehört zu den Tausenden von Gratulanten.
«Ich fühle mich nicht als Held für mein Land», sagt Gjon, wieder in der Heimat. «Ein Held war ich nur für mich selber, auf der Bühne, drei Minuten lang. Es macht mich mega happy, so viele Menschen berühren zu können.» Zielstrebig und selbstbewusst ist der junge Mann, mit einer gehörigen Portion Ehrgeiz.
Gjons grösster Fan, sein Grossvater Hamit, wollte in Rotterdam unbedingt persönlich dabei sein. Er reiste deshalb von Kanada in die Schweiz, wo ihm am Flughafen Zürich wegen einer Corona-Bestimmung die Einreise verweigert wurde. Schliesslich kapitulierte er und flog zurück nach Kanada. «Ich habe ihm so viel zu verdanken», sagt Gjon, der in Saanen BE auf die Welt gekommen ist, seit 21 Jahren im Freiburgischen lebt.
Als Neunjähriger sang er dem Grossvater den Elvis-Presley-Song «Can’t Help Falling in Love» vor und brachte ihn zum Weinen. «Seine Tränen waren der Grund, dass ich mir meinen Künstlernamen zulegte.» 2011 meldet Hamit seinen zwölfjährigen Enkel zur TV-Show «Albania’s Got Talent» an, wo er Dritter wird. Am Konservatorium Bulle FR studiert Gjon klassischen Gesang und beginnt die Primarlehrerausbildung.
Wohnen tut er aber weiterhin direkt neben seinen Eltern und seinem Bruder. Daheim bei Muharremajs wird Albanisch und Französisch gesprochen. Oft wurde er wegen seines Namens in der Primarschule gefragt, woher er komme. «Das fand ich unangenehm. Lange wusste ich nicht, wer ich sein sollte. Heute definiere ich mich nicht über meine Herkunft, sondern über meine Werte und Gefühle. Ich bin froh, multikulturell aufgewachsen zu sein, ich lernte jodeln und indischen Gesang.»
«Wie ich feiere? Maman macht ein Fondue moitié-moitié»
Gjon's Tears
Jetzt ist Gjon ein gefragter Mann. Muss unzählige Autogramme geben. Seine Nachbarn haben ein Transparent aufgehängt: «Bravo, Gjon! Du bist der Beste.» Zu seinen Ehren wird Broc ein Fest veranstalten. Das Leben ist nicht mehr so wie vor dem ESC! Obwohl er «hundemüde» ist, kann Gjon nur schlecht schlafen – zu viele Gedanken kreisen in seinem Kopf. Die Anfragen treffen fast im Minutentakt ein.
Ein Interview folgt dem anderen – «obwohl ich meine Stimme schonen sollte». Schon in den kommenden Tagen wird er pausenlos unterwegs sein. Auftritt am spanischen TV – in Spanien ist «Tout l’univers» auf Platz 1 der iTunes Charts und auch bei einem grossen französischen TV-Sender. Interviews in Albanien, Konzertanfragen aus der ganzen Welt. Einen Manager hat er nicht – Gjon will seine künstlerische Freiheit behalten; eine Kollegin hilft, die Termine zu koordinieren.
Nach dem Sieg folgt aber auch die grosse Erleichterung. Nicht mehr ständig eine FFP2-Maske tragen, wie während der vergangenen zehn Tage in Rotterdam. Nicht mehr alle 24 Stunden die Nase herhalten für einen Corona-Test. Nun will Gjon noch mal richtig feiern: «Maman wird ein Fondue moitié-moitié machen.» Noch diesen Sommer wird der neue Schweizer Star für ein Jahr nach Paris ziehen, um dort sein neues Album für das französische Label Jo & Co (Superstar Zaz ist dort unter Vertrag) aufzunehmen.
«Nun will ich international richtig durchstarten!» Gjon spricht leise, aber dezidiert. Wann Gjon’s Tears das nächste Mal in der Schweiz auftreten wird, steht in den Sternen. Etwas anderes steht dafür bereits fest: Sobald die Corona-Situation es zulässt, wird Gjon für ein paar Tage nach Kanada fliegen. Um endlich Grosspapa Hamit in die Arme zu schliessen.