Wir müssen noch den Boden nass aufwischen», sagt Esther Friedli (45). Im Haus der Freiheit ist aufgestuhlt. «Die letzten Spuren einer wilden Party eliminieren», ergänzt Toni Brunner (48) augenzwinkernd. Es ist Dienstagmorgen, neun Uhr.
Am Vortag haben die beiden hier bis um fünf Uhr früh mit Freunden, Bratwurst und Freibier den Einzug von Friedli in den Ständerat gefeiert. «Wir sind noch etwas verkatert», sagt sie.
Die SVP-Nationalrätin hat Historisches geschafft: Erstmals zieht ihre Partei in St. Gallen in den Ständerat – und luchst der SP einen Sitz ab. Damit gelingt Friedli, was ihrem Partner 2011 misslang. «Esther ist die perfekte Ständerätin. Ruhig, sachlich, überlegt – halt kein Polteri», so Brunners Fazit.
Dass sie nun im Scheinwerferlicht steht, ist für den ehemaligen SVP-Parteichef kein Problem. «Obwohl ich nicht dachte, dass ich mal das Bett mit einer Frau teile, die sich überall an den Strassenrand stellt.» Schallendes Lachen.
«Jetzt gibts noch ein Küssli!»
Die Rollenverteilung im Hause Friedli-Brunner hat sich bereits mit seinem Rücktritt aus der Politik Ende 2018 und ihrer Wahl 2019 ins nationale Parlament verändert. «Im Gegensatz zu früher traue ich mich heute in die Waschküche», foppt Brunner.
Während des Wahlkampfs kümmerte er sich zudem vermehrt um die Gäste im Haus der Freiheit. «Was die Wahl ins Stöckli für unseren Alltag bedeutet, müssen wir erst noch herausfinden», sagt Friedli und schaut auf die Uhr. Zehn Uhr. «Ich muss los, nach St. Gallen!» Dort steht ein Austausch mit dem Regierungsrat und ihrem Ständeratskollegen Benedikt Würth von der Mitte auf dem Programm.
In Gummistiefeln begleitet Toni seine Liebste zum Toyota. «Jetzt gibts noch ein Küssli. Viel Spass!»
Lungenentzündung vor dem ersten Wahlgang
Im Auto duftet es nach Stall. «Wir sind halt auf dem Land», sagt Friedli und tritt aufs Gas. Auf der Heckscheibe prangt noch der Wahlaufruf, im Kofferraum liegen Wechselkleider und der Rollkoffer für Bern. Seit Januar ist Friedli jeden Tag unterwegs.
Ihre eigens orchestrierte Kampagne für den Ständerat mit dem Slogan «Esther bi de Lüt» nimmt die PR-Beraterin beim Wort. Ob auf Viehschauen, an Sportanlässen oder Messen – Friedli, die eigentlich ungern im Mittelpunkt steht, ergreift jede Gelegenheit, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Das zehrt.
Kurz vor dem ersten Wahlgang erleidet sie eine Lungenentzündung, muss jeden Morgen um acht Uhr zum Arzt. Danach nimmt sie regelmässig Echinaforce. «Beim zweiten Wahlgang hat nur meine Stimme gelitten, sie ist etwas kratzig.» Müde sei sie aber nicht. «Ich bin wohl immer noch euphorisiert.»
Das Spitzenresultat von 57 Prozent der Stimmen erklärt sie nicht zuletzt mit ihrem Einsatz. Natürlich habe auch die Unterstützung des Bauernverbands und der Gastrosuisse geholfen. 150'000 Säckli Zucker mit ihrem Konterfei wurden in St. Gallens Restaurants verteilt.
Gegen den «Woke-Wahnsinn»
In St. Gallen trifft die gebürtige Bernerin ihren ehemaligen Chef Stefan Kölliker. Beim SVP-Regierungsrat arbeitete Friedli, die früher in Worb BE noch für die CVP im grossen Gemeinderat sass, von 2008 bis 2014 als Generalsekretärin im Bildungsdepartement.
Die Annäherung nach rechts erfolgt langsam. Toni Brunner erzählt der SI 2016 von «zwölf Jahren harter Arbeit». Heute verantwortet Friedli das Parteiprogramm, wo sie gegen den «Woke-Wahnsinn» und genderneutrale WCs schimpft.
Auf dem Weg vom Parkhaus ins Regierungsgebäude erzählt sie von Wil, das zunehmend zum Hotspot für Kriminelle wird. «Parkiere ich da, lungern überall junge Männer herum. Die meisten wohl Asylbewerber.»
Nach der Sitzung mit der Regierung gehts mit dem Zug weiter nach Bern an die Sondersession. «Ich will eine gute Zusammenarbeit mit der Regierung, als deren Sprachrohr sehe ich mich aber nicht», sagt Friedli.
Der Kontrolleur gratuliert ihr zur Wahl, eine Zugpassagierin sagt, «Grüezi, Frau Rickli». Man verwechsle sie manchmal mit der Zürcher Regierungsrätin.
Parfumierter Liebesbrief
Friedli ist vor 16 Jahren aus Worb zu Toni Brunner nach Ebnat-Kappel gezogen. Erobert hat er sie mit «seiner charmanten, natürlichen Fröhlichkeit» – und einem parfümierten Liebesbrief. Ihre Eltern leben immer noch in Worb, einmal pro Session trifft sie die beiden zum Essen.
Ehrfürchtig steht Friedli im leeren Ständeratssaal und blickt auf das Wandbild der Landsgemeinde. «Ich weiss noch nicht, wo mein Platz ist.» In der grossen Kammer sass sie von Beginn weg in der hintersten Reihe – bei den einflussreichsten Fraktionsmitgliedern. «Ich kann es noch gar nicht glauben.»
Zum ersten Mal an diesem Tag zeigt die kontrollierte Politikerin, wie sehr sie der Wahlsieg berührt. «Im Haus der Freiheit liefen mir irgendwann am Sonntag die Tränen runter. Da darf man schon Emotionen zeigen, oder?», fragt sie fast entschuldigend.
«Ich habe so mitgezittert»
«Esther, du bist unglaublich!» Die Obwaldner SVP-Nationalrätin Monika Rüegger (55) fällt Friedli in die Arme, die beiden Frauen drücken sich minutenlang. «Ich habe so mitgezittert», sagt Rüegger und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
Seit ihrer gemeinsamen Wahl 2019 in den Nationalrat teilen sie sich in der unteren Altstadt von Bern eine Wohnung. «Wir sind seelenverwandt, obwohl wir einen total unterschiedlichen Hintergrund haben», sagt die vierfache Mutter Rüegger. «Esther ist authentisch, das spüren die Leute.»
Wann immer es die Zeit zulasse, sitzen die beiden während der Session am Abend im Pyjama im Wohnzimmer und lassen den Tag Revue passieren. «Wie in einer Ehe», witzelt Rüegger.
Apropos: Wann gibts eigentlich den Heiratsantrag von Toni? «Wir haben gar keine Zeit dazu», sagt Friedli und fügt schmunzelnd an. «Toni ist eben chli schüüch.»