Sarah Briguet nimmt ein paar Bausteine zur Hand, um zu zeigen, was ihr widerfahren ist. Sie stellt einen auf den anderen. «Das passiert, wenn ein Kind missbraucht wird …» Mit einer lebhaften Geste fegt sie den untersten Stein weg – und die fragile Konstruktion stürzt ein.
Vor Kurzem ist die ehemalige Miss Schweiz 50 Jahre alt geworden. Sie weiss noch immer, wie sie für Fotos posieren muss, schaut mit demselben melancholischen Blick wie nach ihrer Wahl 1994 in die Kamera. Man hat sie schon lange nicht mehr in den Medien gesehen. Man hört nur noch ihre Stimme: Sie war Sprecherin und Regisseurin bei Radio Télévision Suisse RTS, Radiomoderatorin, ja sogar Bestatterin. Nun ist sie Produzentin und Offstimme beim Walliser Radiosender Rhône FM. Von Fotos hat sie eigentlich genug, aber für diese Geschichte macht sie eine Ausnahme.
Vor einigen Monaten begann Briguet damit, ein Buch über ihr Leben zu schreiben. Es ist ein Blick auf ihr Leiden hinter der Missen-Kulisse. «Ohne Hass und ohne Rachegefühle», versichert sie. «Das Buch von Camille Kouchner hat sehr viel ausgelöst. Ich glaube, jetzt ist der Moment, wo sich endlich etwas bewegt. Je mehr wir darüber sprechen, desto mehr erkennen alle, die diese Art Probleme haben, wie ernst sie sind.»
Mehr als die Hälfte ihres Werks hat Briguet bereits geschrieben, nun sucht sie einen Verlag, der den Mut hat, so eine Geschichte zu veröffentlichen: «Hilft meine Geschichte auch nur einer Person, bin ich glücklich.»
Vielleicht möchte sie mit dem Buch auch das Mädchen ehren, das sie einmal war, «ein kleiner Teufel, ein Wildfang». Der in Siders VS aufgewachsen ist, eine grosse Schwester hat, einen Papa und eine Mama, die viel arbeiten.
Die Familie ist nicht reich, aber es fehlt an nichts. Ausser an Offenheit, denn alles ist versteckt. «Dass da eine erdrückende Stimmung über allem war, wurde mir erst später bewusst.» Und wegen jener Person, die eigentlich das Fundament der Familie sein sollte, ihre Stütze, geht alles schief.
Sarah vermeidet krasse Details über den Missbrauch. Sagt lediglich, dass ihr Vater an ihr, die zwischen fünf und dreizehn Jahre alt war, «Handlungen verübte, die ein fünfjähriges Kind zunächst nicht versteht. In diesem Alter ist das Gehirn nicht bereit dafür. Da diese Taten von jemandem kamen, dem ich vertraute, sagte ich mir, dass ich es tun muss. So wie man es auch akzeptiert, dass man in die Schule muss, obwohl man nicht will.»
In ihrem Innern weiss sie, dass etwas nicht stimmt. Mit sechs Jahren droht sie ihrem Vater damit, sich aus dem Fenster zu stürzen, wenn er nicht aufhört. Er gibt dem Alkohol die Schuld für seine Taten. «Das war gelogen. Wenn so etwas an einem Sonntagmorgen geschieht, kann es nicht an Trunkenheit liegen.»
Sarah ist wütend, spricht aber mit niemandem darüber. «Mir war bewusst, dass das, was passierte, ekelhaft war. Aber es gibt eine Ambivalenz. Ich musste meinen Vater lieben. Er gab mir Essen, nahm mich mit in den Urlaub. Ich wusste: Wenn ich darüber rede, würde ich alles um mich herum zerstören. Also schuf ich mir eine Maske. Ich vertraute nichts und niemandem mehr, vor allem nicht mir selbst.»
Sport wird ihr Ventil, am liebsten brutal: Sie boxt und macht Bungee-Jumping. Die Zeit vergeht, und als Sarah 17 Jahre alt wird, ist sie eine schöne junge Frau, doch ohne Interesse für das Leben. Sie erzählt einer nahestehenden Person von ihrem Geheimnis. Diese rät ihr, es für sich zu behalten. Von ihrer Mutter hört sie
nur: «Stell dir vor, wenn wir ihn denunzieren… Er wird ins Gefängnis kommen, und alles wird noch trauriger.»
Die junge Frau sehnt sich nach Anerkennung. «Der einzige Weg, den ich fand, um zu existieren, war, Miss zu werden. Dort wurde ich plötzlich wichtig.» Als Miss Romandie und dann als Miss Schweiz vergisst Sarah sich in den Blitzlichtern. Doch die vermeintliche Lösung stellt sich als Irrweg heraus.
«Das Stück, das ich spielte, wurde noch schwieriger. Ich war wieder in einer Geschichte, in der ich als Frau ein Objekt war, eine Sache. So wie ich es immer gewesen war.» Darum hofft Sarah Briguet nach ihrem Amtsjahr inständig, schnell vergessen zu werden. Doch sie hat Pech: Es wird zehn Jahre dauern, bis mit Lauriane Gilliéron wieder eine Westschweizerin die Krone trägt.
Sarah Briguet kämpft, wünscht sich, jemand in ihrer Familie anerkenne, was geschah, wache auf. «Ich habe Anzeige erstattet, als ich 26 war. Doch da war alles schon verjährt. Als ich meinen Vater mit den Fakten konfrontierte, nannte er mich krank und verrückt.» Weil es keine Penetration gegeben hatte, ist er überzeugt davon, sein Kind nicht vergewaltigt zu haben.
Sarah baut sich auf, so gut sie kann. «Auf einer solchen Grundlage zu stehen, bedeutet, ein falsches Leben zu führen, sich verloren zu fühlen, ohne Identität. Ich verkörperte gegen aussen ein Image, während ich innerlich leer war. Nichts machte Sinn.» So ein Zustand führt oft in den Exzess und in die Abhängigkeit. «Zum Glück hatte ich eine gute Ausbildung erhalten, die mich davor bewahrte.»
Die Therapien, die sie ausprobiert, helfen nicht. Sie heiratet zweimal, bekommt zwei Kinder. «Früher hatte ich nur einen Wunsch: zu sterben. Als ich meinen Sohn bekam, spürte ich
mit 36 Jahren zum ersten Mal eine echte menschliche Verbindung. Ich entdeckte, dass ich jemandem vertrauen kann – dass er mich nie absichtlich verletzen würde.»
Seit zwei Jahren arbeitet Sarah Briguet intensiv an sich. Bis zu diesem Zeitpunkt gehen ihr die schrecklichen Szenen ihrer Kindheit «vier- oder fünfmal am Tag» durch den Kopf. Die Traumatherapie, die auch bei Soldaten in Vietnam angewendet wurde, hilft ihr dabei, ihre «Dämonen» zu verjagen.
Heute geht es ihr besser. Sie habe Spass an ihrem Beruf und merke, dass kleine Dinge sie berühren. Sie, die 30 Jahre alt werden musste, bis sie sich über den Gesang eines Vogels freuen konnte.
«Ich möchte das bisschen Bekanntheit, das mir geblieben ist, nutzen, um eine Botschaft zu vermitteln: ‹Wenn du ein Problem wie dieses hast, sprich darüber!› Ich lege den ersten Stein für ein Gebäude, an das ich mit aller Kraft glaube: Prävention.» Deshalb ist sie Patin von Patouch. Der Verein setzt sich seit 20 Jahren dafür ein, Kinder und Erwachsene über die Problematik von Gewalt aufzuklären. «Ein Kind, das weiss, dass das, was mit ihm geschieht, nicht normal ist, weiss, wie es sich wehren kann. Das ist eine unverzichtbare Prävention, die an den Schulen obligatorisch sein sollte.»
«Es gibt Tausende Fälle wie diesen, und es wird nichts unternommen»
Bernard Jaquet, Präsident Patouch
Patouch-Präsident Bernard Jaquet, der 35 Jahre lang Polizist war, fügt an: «Sarahs Geschichte zeigt die Folgen der verpassten Prävention. Das Muster ist klassisch; es gibt Tausende Fälle wie diesen, und es wird nichts unternommen. Wenn Sarah in der Lage gewesen wäre, mit Spezialisten zu sprechen, wäre vielleicht nichts passiert.»
Übersetzung: Lynn Scheurer
350 Kinder sind in der Schweiz 2019 Opfer von Inzest geworden, so eine Umfrage des welschen Fernsehens RTS. Laut Optimus-Studie von 2018 erlitten rund 4000 Minderjährige sexuelle Gewalt – Mädchen häufiger als Jungen. Experten schätzen, dass zwei von drei Missbräuchen im engsten Familienkreis stattfinden. Opfer von Gewalt können sich bei folgenden Stellen melden: Tel. 117 (Polizei), Tel. 147 (Kinder- und Jugendberatung), opferhilfe-schweiz.ch (kantonale Meldestellen).