Am Zürcher Bürkliplatz drängt die Sonne mit frühsommerlicher Kraft die Wolken zurück. Das Wasser unter der «MS Wädenswil» schimmert in karibischem Grünblau, auf dem Oberdeck glänzt der Meisterpokal. Ahoi! Der FC Zürich – Schweizer Meister 2022 – sticht in See, um sich per Kurzkreuzfahrt bei seinen Fans in den Gemeinden Wädenswil, Männedorf, Horgen und Meilen für die Unterstützung zu bedanken. «Eine geniale Idee», ruft Antonio Marchesano und schiebt seine Sonnenbrille zurecht. Der Tessiner mit Wurzeln in Kalabrien ist mit Ehefrau Isabella, 31, auf das Meisterschiff gekommen. «Ich bin extrem stolz auf Antonio», sagt sie, «aber dafür hat er auch hart gearbeitet.»
Tritt Marchesano auf den Platz, sieht es aber nicht nach Arbeit aus – sondern nach purer Lebensfreude und verspielter Leichtigkeit. «Er ist eine klassische Nummer 10», sagt Blerim Dzemaili, 36, der sich mit seinem Copin wie im Schlaf versteht und die meisterliche Mittelfeldachse bildet: «Tonino bringt das Überraschende und Geniale in unser Spiel.»
Dzemaili und Marchesano. Zwei Könner ihres Fachs. Optisch unterscheidet die beiden seit einigen Wochen die Haarfarbe. Marchesano trägt mittlerweile Blond: «Das war quasi eine Wette mit mir selber.» Und es bringt ihm seinem grossen Idol Alessandro Del Piero, einer der Symbolfiguren von Juventus Turin, zumindest visuell näher: «Juventus ist in Italien mein Traumverein.»
Marchesano schwebt derzeit nicht nur sportlich auf Wolke sieben. Er und Isabella, die gelernte Grafikerin, die wie er in Bellinzona aufgewachsen ist und Wurzeln in Kalabrien hat, wurden Ende April Eltern von Söhnchen Mattia. «Irgendwann werde ich ihm bestimmt einen Ball zuspielen», sagt der stolze Vater. Zusammen mit Tochter Emelie, 3, sind die Marchesanos nun zu viert. Für den Vater bedeutet dies vermehrt Küchendienst: «Ich konzentriere mich auf die einfachen Dinge:
Filet Wellington, Pastagerichte oder andere italienische Rezepte.» Dabei kann er seit dieser Saison sogar auf eine eigene Gewürzmischung zählen: «Marchesano Magic», die im FCZ-Fanshop zu den Kassenschlagern gehört.
Darauf angesprochen, leuchten die Augen des Fussballers: «Es macht mich stolz, dass ein Gewürz nach mir benannt ist.» Und als das Meisterschiff in Wädenswil von Hunderten von fahnenschwingenden Fans begrüsst wird, sagt der Tessiner beeindruckt: «Man spürt, dass wir die Menschen mit unseren Leistungen berührt haben. Das macht mich glücklich.»
Doch zurück von der «MS Wädenswil» auf den Fussballplatz. «Er ist ein Spätzünder», sagt FCZ-Sportchef Marinko Jurendic über Marchesano – und bezieht sich dabei auf den Karriereverlauf des Meisterregisseurs, der vom Erstligisten GC Biaschesi auf eine Tour d’Horizon durch die Challenge League führte (Locarno, Bellinzona, Winterthur, Biel). Dabei lernte Marchesano auch die Schattenseiten des Geschäfts kennen. Sowohl in Bellinzona als auch in Biel stand am Schluss der finanzielle Kollaps. «Deshalb schätzt er die Stabilität in Zürich noch viel mehr», sagt Jurendic.
«Ich bin stolz auf Antonio, er hat hart gearbeitet» Isabella Marchesano
2016 war der FCZ auf den spielstarken Aufbauer aufmerksam geworden. Und obwohl Zürich damals in die Challenge League abstieg, erkannte Marchesano die Chance: «Der FCZ ist ein grosser Klub. Und rückblickend war die Saison in der Challenge League ein sehr positives Erlebnis.» So oder so: Für den früheren Wirtschaftsstudenten war der Wechsel nach Zürich ein sportlicher Schlüsselmoment – und ein Glücksfall. Der Aufstieg folgte postwendend, danach der Triumph im Schweizer Cup und eine starke Saison in der Europa League. Und nun der Meistertitel. «Ich möchte diesen Moment so lange wie möglich geniessen. Und wenn es sogar noch für die Champions League reichen würde, wäre dies ein Traum», sagt Marchesano.
Ein anderer Traum – denjenigen von einem Aufgebot in die Schweizer Nationalmannschaft – hat er schon fast aufgegeben: «Wenn es nicht reicht, wenn man zweimal in Serie der beste Schweizer Scorer in der Super League ist, wird es wohl schwierig.» Kollege Dzemaili sieht dies anders: «Murat Yakin müsste ihm eine Chance geben.» Und Sportchef Jurendic pflichtet bei: «Bei diesen konstanten Leistungen und dem Titelgewinn als Krönung wäre ein Aufgebot nichts als logisch.» Marchesano sei einer jener Spieler, die für die Stimmung in der Garderobe extrem wichtig sind: «Er ist ein Herzensmensch – einer, der stark auf das Zwischenmenschliche achtet und immer sehr zugänglich ist. Im richtigen Moment bringt er die nötige Portion Humor und Lockerheit in die Mannschaft.»
Auch Trainer André Breitenreiter, der sich mit der Schifffahrt über den Zürichsee in Richtung Bundesliga verabschiedet, weiss, was er an Marchesano hatte: «Er war einer meiner drei Captains – und ein Spieler mit fantastischem Charakter und einer hervorragenden Übersicht. Der Deutsche lernte zuletzt noch eine andere Seite seiner Nummer 10 kennen: «Wenn es etwas zu feiern gibt, ist Tonino meistens der Erste, der auf dem Tisch tanzt.» Auf der «MS Wädenswil» gehts fröhlich und locker zu und her, aber mit dosierter Party-Intensität – zu lange war in der Nacht davor gefeiert worden, zu heftig schaukelt das Boot im aufkommenden Gewittersturm. So stösst Breitenreiter mit einem Mineralwasser auf Marchesano an: «Tonino ist ein Pfundskerl.»
Das Scheinwerferlicht war in den vergangenen Monaten oft auf andere Spieler beim FC Zürich gerichtet: auf Dauerläufer Doumbia, Serientorschütze Ceesay, Rückkehrer Dzemaili. Und Schlagzeilen machen derzeit die prominenten Abgänge des Trainers und von einzelnen Leistungsträgern. Doch die Verlängerung des Vertrags mit Antonio Marchesano bis 2024 war ein noch stärkeres Zeichen. Nach dem Bekenntnis von Dzemaili, dass er weitermacht, bleibt die Besetzung auf der FCZ-Kommandobrücke unverändert. Das verspricht weiterhin hervorragende Fussballkost auf dem Letzigrund. Und wer sein Spiel mit einer Gewürzprise «Marchesano Magic» anreichern kann, darf getrost von weiteren meisterlichen Schifffahrten träumen.