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Schriftstellerin Federica de Cesco

«Krieg in Europa ist so unzeitgemäss»

Seit 70 Jahren schreibt sie Bücher, aber noch nie wurde Schriftstellerin Federica de Cesco von der Realität überholt – bis jetzt! Warum ihr der Ukraine-Krieg auch persönlich zusetzt und wie Frauen die Welt besser machen.

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Federica de Cesco, 2022

Erbstück, Reisesouvenir oder Kunstwerk: In der Wohnung von Federica de Cesco in Luzern erzählt jedes Ding eine Geschichte.

Geri Born

Federica de Cesco, 84, fährt mit der Hand über ihr raspelkurzes weisses Haar: «Mein neuer Look», sagt sie zur Begrüssung und lacht. «Ich hatte genug vom Färben und Föhnen.» Dann bittet sie ins Wohnzimmer, in ein wohlgeordnetes Sammelsurium aus antiken Erbstücken, Reisesouvenirs und Fotografien. «Tee oder Kaffee?», fragt ihr Mann, Kazuyuki Kitamura, 75, und verschwindet in der Küche. «Der Traum jeder Ehefrau», sagt de Cesco und fügt an: «Ich bin sehr ungeschickt, schmeisse dauernd etwas um, mein Mann gleicht das mit seiner Eleganz aus.» Seit zwölf Jahren leben Federica und Kazuyuki in einer grosszügigen Wohnung hoch über der Luzerner Seepromenade mit Blick auf den Pilatus. Und seit 51 Jahren sind die Schriftstellerin und der japanische Fotograf ein Paar. «Wir machen alles zusammen», sagt sie. «An meinen Lesungen setzt sich Kazu immer in die hinterste Reihe und liest in einem Buch, er ist diskret, keine Redetasche wie ich.»

Federica de Cesco redet viel, aber noch viel mehr schreibt sie. Mit dem Indianerroman «Der rote Seidenschal», den sie schon als 15-Jährige zu Papier brachte, sind Millionen europäischer Kinder aufgewachsen. Über 100 Bücher hat sie seither veröffentlicht, die meisten für Jugendliche. Seit den 90er-Jahren schreibt sie aber auch für Erwachsene. Die Heldinnen ihrer Bücher sind mutige Frauen und starke Mädchen, die machen, was sie für richtig halten – genau wie sie selbst: Sie trug Hosen, als Röcke für Mädchen noch Pflicht waren. Sie hatte nie einen Fernseher, und sie sagt von sich, sie könne überall glücklich sein, wenn sie nur die richtigen Menschen um sich habe.

Federica de Cesco, 2022

«Um die Pflanzen kümmert sich mein Mann» – Federica de Cesco auf ihrem Balkon, unweit der Luzerner Seepromenade.

Geri Born

Federica de Cesco, Sie schreiben an Ihrem 102. Buch …
… verrückt, oder? Aber ich kann einfach nicht anders, für mich ist Schreiben selbstverständlich. Was soll ich auch sonst tun?

Ausschlafen?
Non, non, mein Mann und ich stehen immer um sechs Uhr auf, frühstücken, joggen am See, danach setze ich mich an den Computer. Früher habe ich acht Stunden pro Tag geschrieben, heute sind es nur noch viereinhalb. Nachmittags fühle ich mich meist etwas gaga und bleibe faul.

Worum gehts in Ihrem neusten Roman?
Er handelt von einem Bauchredner und seiner Puppe. Die Puppe stammt aus Tibet und macht im Laufe der Handlung immer bösere Witze über die Chinesen, die ein unabhängiges Land angegriffen und zerstört haben, ähnlich wie es heutzutage mit der Ukraine geschieht. Das macht ihm und nun auch mir Probleme …

Warum?
Weil mein Puppenspieler jetzt auch die russische Staatsgewalt aufs Korn nehmen sollte. Und ich einen gemeinen russischen Agenten brauche, der ursprünglich nicht vorgesehen war.

Sie wurden also von der Realität überholt.
Absolut! Der fiese Agent war nicht Teil meines Plots, nun versuche ich, ihn da irgendwie «reinzudrücken».

Federica de Cesco, 2022

Ihre Hoffnung auf eine friedliche Zukunft stirbt zuletzt: «Ich glaube an die Vernunft der Menschen.»

Geri Born

Was ging in Ihnen vor, als Sie vom russischen Angriff auf die Ukraine hörten?
Ich war sprachlos. Und dann … war ich immer noch sprachlos. Ich hatte schlaflose Nächte, die schrecklichen Bilder gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Schliesslich kam die Empörung. Ein Krieg mitten in Europa – das ist so unzeitgemäss!

Wie meinen Sie das?
Nun, die Menschen haben sich im Laufe der Jahrtausende stetig weiterentwickelt, aber nicht alle im gleichen Rhythmus. Denken Sie etwa an die Taliban in Afghanistan, die jetzt wieder Millionen Frauen unterjochen – mit ihnen können wir uns nicht vergleichen, sie sind brutal zurückgeblieben.

Sie würden also sagen: je zivilisierter eine Gesellschaft, desto geringer die Kriegsgefahr?
Ja, genau. In einer hoch entwickelten Gesellschaft gibt es Empathie. Darum war es für mich bis vor Kurzem undenkbar, dass Russland – ein Land auf dem gleichen Entwicklungsstand wie wir – einen Krieg anzettelt. Aber Putin ist ein eiskalter Stratege, ein Schachspieler, der die Menschen nicht als Individuen behandelt, sondern als Kollateralschäden. Optimistisch stimmt mich hingegen, wie emphatisch die Ukrainerinnen und Ukrainer sind. Sie nehmen sogar ihre Tiere mit, wenn sie flüchten – wie die Frau mit dem Schlittenhund. Sie hatte seit Tagen nichts mehr gegessen und getrunken, aber das schwere Tier auf ihren Armen getragen. Wenn das nicht humanistisch ist …

Was ist mit dem russischen Volk?
Es wurde von Putin jahrelang geknechtet und manipuliert. Aber eigentlich sind die Russen ein warmherziges Volk. Ich bin überzeugt: Es wird etwas machen mit den russischen Müttern, wenn sie sehen, wie Tausende Särge eintreffen. O Mamma mia!

Federica de Cesco, 2022

Kommt ihr beim Schreiben am Computer ein besonderer Gedanke, hält sie ihn in ihrem Notizbuch fest.

Geri Born

Sie sprechen die Frauen an: Wäre die Welt eine bessere, wenn Frauen in der Politik mehr zu sagen hätten?
Auf alle Fälle! Natürlich können Frauen nichts ohne Männer und Männer nichts ohne Frauen. Aber die Männer haben, würde ich sagen, eine vertikale Art zu denken, die ihre Überlegungen bisweilen unelastisch macht. Frauen denken mehr in alle Richtungen und finden Lösungen, auf die Männer gar nicht kommen würden. Glücklicherweise steigen Frauen vermehrt in die Politik ein, aber sie zweifeln noch immer zu oft an sich. Das beginnt schon bei den Mädchen. Wenn ich eine Schulklasse besuche, kriege ich Bammel. Es sind immer die Buben, die Fragen stellen. Ich wünsche mir mehr aufmüpfige Mädchen!

So wie Sie eines waren! Sie wurden 1938, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, geboren. War Ihre Kindheit nicht vom Krieg geprägt?
Gar nicht! Als Tochter eines italienischen Vaters und einer deutschen Mutter bin ich in Äthiopien, Italien, Frankreich, Deutschland und Belgien aufgewachsen. Meine Eltern haben mich immer schön abgeschirmt vor dem Krieg. Ich erinnere mich an die Zeit in Italien, da war ich vielleicht acht – mein Vater schickte meine Mutter und mich aufs Land zu Verwandten. Dort merkten wir nichts vom Krieg. Ausser dass es kein Holz und keine Kohle gab. Darum gingen wir in den warmen Kuhstall. Die Frauen spielten Tombola, die Männer Karten. Und jetzt müssen Sie sich meine elegante Mutter vorstellen, die mit High Heels im Kuhstall sass und für mich und meine Puppe häkelte und stickte. Ich hatte derweil meinen Spass und planschte mit blossen Füssen in Kuhfladen.

Von Michelle Schwarzenbach am 9. April 2022 - 07:56 Uhr