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Die neue Chefin des Filmfestival Locarno

Filmreifer Start für Lili Hinstin

Scheinwerfer an für Lili Hinstin! Die neue Direktorin des Film Festival Locarno setzt auf Frauenpower. Sie wuchs ohne Fernseher auf, liebt Hitchcock und hat dank ihrer Urgrossmutter Schweizer Wurzeln.

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Portrait of Lili Hinstin, director of the Locarno Film Festival, picture taken on Friday, 29 March 2019, Switzerland. (KEYSTONE/TI-PRESS/Pablo Gianinazzi)

Lili Hinstin leitet seit diesem Jahr das Filmfestival Locarno.

Keystone

Die Lady auf dem pinkfarbenen Flamingo zieht alle Blicke auf sich. Souverän dreht Lili Hinstin, 42, auf dem Lago Maggiore ihre Runden. «Pink Flamingos» heisst auch John Waters’ Kult-Film. Er ist eine Zumutung, überschreitet Grenzen, vor allem die des guten Geschmacks. Lange war der «Trash-Papst» das schwarze Schaf der Szene. Am 72. Filmfestival überreicht Lili Hinstin dem 72-Jährigen nun einen Ehren-Leoparden auf der Piazza Grande.

Lili Hinstin Direktorin Filmfestival Locarno

Blickfang: Zu Ehren von Regisseur John Waters («Pink Flamingos») setzt sich Lili Hinstin im Hafen von Locarno in einem Flamingo-Pedalo in Szene.

Geri Born
Chefin von 1000 Mitarbeitern

Die «Zauberkiste» ist das Herzstück. Bricht die Nacht herein, verströmt der Marktplatz pure Magie. «Dieser Ort verdient gute Filme», sagt die Chefin von 1000 Mitarbeitern mit resolutem Charme. «Ich zeige nur Werke, die ich selber mag und die eine eigene Handschrift haben.» Hinstins Handschrift ist ebenfalls unverwechselbar. Ihr Büro tauscht sie schon mal gegen die Café-Bar Selz. Dreht sich von Hand Zigaretten, die sie lasziv raucht wie eine Diva in einem Film noir. Radelt mit wehendem Haar durch die Altstadt zum nächsten Termin.

Die neue Leiterin hat drei klare Ziele

«Ich wurde hier offen empfangen, was ich sehr berührend fand», sagt die neue künstlerische Leiterin des Festivals. Ihre Ziele sind klar: 1. Mit der Sektion Crazy Midnight ein jüngeres Publikum anlocken. 2. Die Frauenquote steigern. 3. Vom radikalsten Werk bis zur Lovestory die ganze Bandbreite menschlichen Verhaltens auf die Leinwand bringen. Wie Quentin Tarantinos jüngster Geniestreich «Once Upon a Time in Hollywood» (mit Leonardo DiCaprio und Brad Pitt).

Dass bei Tarantino («Kill Bill») Männer wie Frauen gleichermassen Gewalt erleben, ist für Hinstin kein Grund, den Film zu boykottieren, wie gewisse Kreise fordern. Auch die Kritik, dass zu wenig Schweizer Beiträge gezeigt werden, lässt sie kalt: «Wenn wir keine passenden Werke aus der Schweiz finden, dann nehme ich nicht aus diplomatischen Gründen welche ins Programm.»

Lili Hinstin Direktorin Filmfestival Locarno

Schönster Kinosaal der Welt: «Zauberkiste» Piazza Grande mit schwarz-gelber Bestuhlung.

Geri Born
Früher fühlte sie sich ängstlich

Kuschen ist nicht ihr Ding. «Ich war nicht immer so selbstbewusst», sagt die Sprachwissenschafterin. «Obschon ich den Leistungsausweis für grosse Jobs mitbrachte, fühlte ich mich unsicher und ängstlich. Der Grund liegt in unserer Erziehung. Als Junge wirst du ermuntert, verrückte Sachen auszuprobieren, und darfst dabei Fehler machen – alles gar kein Problem. Bei Mädchen ist das anders. Fehler sind nicht erwünscht. Diese Erkenntnis war schmerzhaft. Man fühlt sich später als totaler Versager, wenn etwas misslingt. Wir Frauen müssen uns schleunigst mehr zutrauen. Darum ist es 2019 bedeutend, in einer solchen Position zu sein, wie ich es jetzt bin.»

Preisträgerin Hilary Swank reist persönlich an

5000 Beiträge aus aller Welt wurden unter Hinstins Schirmherrschaft gesichtet. 128 werden auf der Piazza Grande und in den Kinosälen gezeigt, 17 schafften es in den Wettbewerb. Der Goldene Leopard geht dieses Jahr an den Schweizer Fredi M. Murer («Höhenfeuer»). Ehrungen erhalten John Waters, der Südkoreaner Song Kang-ho und Oscar-Preisträgerin Hilary Swank («Million Dollar Baby»). Der Hollywood-Star reist persönlich an. Alles in allem ein gelungener Start, bedenkt man, wer hinter den Kulissen alles mitzureden hat.

Lili Hinstin Direktorin Filmfestival Locarno

La Directrice Hinstin pflegt am Hauptsitz PalaCinema in Locarno einen relaxten Umgang mit ihren Mitarbeitern.

Geri Born
Zuvor arbeitete sie in Frankreich und Italien

Lili Hinstin ist seit zehn Jahren im Business, leitete sechs Jahre das Festival von Belfort. Davor war sie für die Filmaktivitäten im Centre Georges-Pompidou und für die Französische Akademie in der Villa Medici in Rom zuständig. «Nach vier Jahren war ich erschöpft – und superwütend. Es war, als ob man einen schlafenden Elefanten wecken würde. Ich war jung, legte mich ins Zeug und nahm vieles zu schwer. Man merkt erst, wenn man älter wird, dass Lockerheit der Seele hilft und einen manchmal trotzdem weiterbringt.»

Sie ist Fan des TV-Klassikers «Der kleine Lord»

Geboren im «Jahr der Sex Pistols», wurde sie von ihren Eltern schon als Kind in die Pariser Kinos mitgenommen. Die dunklen, gefährlichen Momente in Hitchcocks Krimis faszinierten Lili ebenso wie der Weihnachtsklassiker «Der kleine Lord». «Wir hatten keinen Fernseher zu Hause. Jeden Mittwochnachmittag durften wir bei den Grosseltern VHS-Videos schauen.» Dass ihr Vater in zwei Filmen von Altmeister Jean-Luc Godard mitspielte, macht sie noch heute stolz.

Lili Hinstin Direktorin Filmfestival Locarno

Unkonventionell: Lili Hinstin und Festival-Pressefrau Ursula Pfander im Café Selz, ihrem Ersatzbüro.

Geri Born
«Ich bin ein wenig Schweizerin»

Ihr Bezug zur Schweiz? «Als Kind verbrachte ich Ferien in Crans-Montana. Ich erinnere mich vage an die mächtigen Berge. Ich bin übrigens auch ein wenig Schweizerin», sagt sie, «die Geschichte ist wirklich unglaublich! Meine Urgrossmutter war Jüdin. Sie bekam vom Pfarrer eine gefälschte Urkunde ausgestellt, wurde auf dem Papier zu einer Protestantin, die in La Chaux-de-Fonds geboren ist. Man hätte sie deportiert und ins Konzentrationslager gebracht.»

Sie kontrolliert die Videospiele des Sohnes

Ihre eigene Familie ist in Paris geblieben. Ihr neunjähriger Sohn Emile besucht sie ab und zu in Locarno. Wie früher gibts bei Hinstins auch heute keinen Fernseher. «Der Feind lauert ganz woanders, in meinem Tablet, das ich zu Hause vergessen habe. Emile macht darauf Videospiele, aber nur solche, die ich auch liebe. Die Gefahr ist nicht das Spiel selber, sondern die Zeit, welche die Kinder damit verschleudern. Ich wünsche mir, dass sie den Zugang zur realen Welt finden, sei es durch Bücher oder Filme, durch Intelligenz und Schönheit.»

Von Caroline Micaela Hauger am 9. August 2019 - 14:50 Uhr