Der Knirps am Bühnenrand ist sich seiner Sache nicht sicher. «Gell, Papa, ich krieg nicht noch mehr Text, oder?» Frank Castorf, 67, sitzt im Zuschauerraum am Regiepult. «Nein, du brauchst keine Angst zu haben. Das machst du ja schon sehr schön. Du weisst aber auch: Dein Vater ist immer wortbrüchig.» Alle lachen. Auch Mikis, der mit seinen neun Jahren zu den jüngsten Akteuren am Zürcher Schauspielhaus zählt.
Seit Wochen büffelt der Wuschelkopf mit den ausdrucksstarken Augen komplexe Textpassagen und verkörpert mit seinem unschuldigen Kindergesicht groteske, bösartige Figuren. Mit seiner Mutter Irina Kastrinidis, 40, steht er im Stück «Justiz» von Friedrich Dürrenmatt auf der Bühne. Die Zürcherin mit griechischen Wurzeln spielt eine Hauptrolle. Helene Kohler kann weder eigenständig leben noch lieben, weil sie an ihrem Vater hängt und alles für ihn tut.
Zehn Jahre lang spielte Irina Kastrinidis auch die Hauptrolle in Castorfs Leben. Der gefeierte und gefürchtete Regisseur hat sieben Kinder von fünf Frauen. Der Ring, den er trägt, ist ein Erbstück von seinem Grossonkel. Verheiratet war er nie: «Ich will ja glücklich bleiben.»
Vor neun Jahren trennte sich das Paar – mit Anstand und Respekt. Beide haben neue Lebenspartner. Trotzdem arbeiten sie erfolgreich zusammen. Mikis ist Castorfs jüngster Spross. «Ein findiges, liebes Kerlchen», sagt sein Papa stolz. Und begabt dazu. Gut möglich, dass der Kleine mal ganz gross rauskommt und in ein paar Jahren die Theaterbühne rockt!
Irina Kastrinidis begann mit 17 die Schauspielschule. 2004 lernte sie an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin Castorf kennen. «Mich faszinierte seine Leidenschaft. Mikis war ein Wunschkind. Doch irgendwann passten unsere Lebensstile nicht mehr zusammen.»
Wie liebevoll Frank Castorf mit dem Sohn umgeht, berührt sie. Überfordert er den Jungen nicht? «Quatsch!», so seine Antwort. Und auf sich bezogen: «Die grösste Gefährdung ist der Missmut – in jedem Alter. Dagegen muss man ankämpfen, mit Arbeit, Überforderung. Darum gehts ja, ‹forever young›. Das muss man schon begreifen. Nur durch die Selbstgefährdung bleibt man jung.»
In einer Woche ist Premiere. Man hat den Eindruck, die Nerven liegen blank. Bei Castorf Normalzustand. Als Intendant prägt er das deutschsprachige Regietheater, inszeniert auf der ganzen Welt. Jede Szene erarbeitet er intuitiv, komponiert im Moment, zerpflückt Texte, zeigt das Schöne und Dreckige, das Eklige. Poltert, brüllt, wird grob.
Eine Zumutung, finden die einen. Absolut genial, die anderen. Bei den Proben zu «Justiz» klingt das so: «Kannst du die Spannung halten? Laber das nicht weg. Trink, du Hurenanwalt. Versuch mal zu zittern – und lächle dabei. Nee, kein Behindertenspiel, du musst Kinski sein. Lass das Scheisszeug endlich in die Blutbahn. Wo ist das Messer? Nimm es. Kein Symboltheater aus der DDR 1958. Stich zu! Brutaler!»
Man leidet mit den Schauspielern. Das Timing ist messerscharf, die Energie im Saal spürbar. Auf Videoscreens tauchen die Zuschauer mit dem Ich-Erzähler in dessen Erinnerung ein. Der gescheiterte Rechtsanwalt Felix Spät – naiv, versoffen, ruiniert – reflektiert über den absurdesten Fall seiner Karriere (furios gespielt von Alexander Scheer). Mit bitterbösem Humor entlarvt Dürrenmatt, wie ein Rachemord ein gesellschaftliches System torpediert. Was ist real? Fiktion? Illusion? Gesetze werden ausgehebelt, Grenzen überschritten. Wer ist schuld: jener, der das Gesetz erlässt? Oder der, der es bricht?
Friedrich Dürrenmatt begann 1957 mit der Arbeit an «Justiz». Geplant war, das Werk in wenigen Monaten zu beenden. Es dauerte 30 Jahre, bis der Kriminalroman erschien (1993 mit Maximilian Schell verfilmt). Frank Castorf setzt sich zum ersten Mal mit Dürrenmatt auseinander, der ein Hassliebender seiner Heimat war. «Ich mag seinen Mut, seine Wut. Er stellt laufend Fallen und hat eine diebische Freude, das Gegenteil von dem zu behaupten, was eben noch gültig war.»
Auch Castorf verbindet mit der Schweiz eine 30-jährige Hassliebe. Er staunt über die Ordnungswut, den Nationalismus, die Erwartungshaltung. «Man kommt in eine Wirtschaft, setzt sich hin, überall steht ‹reserviert›. Sagt der Kellner, können Sie nicht lesen? Man kann, manchmal will man nicht. Ein gesundes Misstrauen wäre gut. Fehlt es, kann man keine gute Kunst machen. Es gilt, als Künstler asozial zu sein und nicht satt!» Castorf holt die Menschen, die bereit sind, existenziell zu fühlen, mit knallhartem Theater ab.
Ob sein Stück beim Publikum ankommt, darüber macht sich der «pöbelnde Zyniker» keine Gedanken. «Sonst wäre ich Konditor bei Sprüngli. Die Presse hasst mich, das Publikum auch. Es ist gut, Feinde zu haben.»
Justiz, nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt, ab 13. April im Schauspielhaus Zürich, www.schauspielhaus.ch.