Damit das gleich vor der Gegenlektüre erledigt ist: Nein, Pirmin Reichmuth, wir bezeichnen Sie nicht als den Favoriten fürs Eidgenössische Schwingfest (ESAF) dieses Wochenende in Zug. Diesen Druck wollen wir Ihnen nicht aufbürden. Und schon gar nicht würden Sie sich selbst so bezeichnen: «Sechs, sieben Athleten kommen technisch und athletisch für den Königstitel infrage. Durchsetzen wird sich jener, der im Kopf am stärksten und bereit ist. Ich hoffe, das wird bei mir der Fall sein und ich kann in jedem Gang mein Optimum geben.»
Unter dem Favoriten-Druck ist am wichtigsten aller Schwinganlässe schon manch einer zusammengebrochen. Und für Reichmuth Pirmin, 23, scheint die Last bei der diesjährigen Austragung speziell gross zu sein. Der 1,98-Meter-Hüne kommt aus Cham ZG und bestreitet vor 56 500 Augenpaaren in der Zug Arena ein Heimspiel. «Ich kenne hier jeden Meter. Und ich würde lügen, wenn ich behauptete, die hohen Erwartungen einer ganzen Region nicht zu spüren. Aber ich empfinde das als positiven Druck; ist doch schön, wenn die Leute viel von dir erwarten!»
Dass «Piri» mit hohen Erwartungen umgehen kann, ist keine leere Behauptung. Ende Juli hat er als Favorit mit dem Sieg auf dem Brünig den bisher grössten Triumph seiner Karriere erreicht, die von Talent ebenso geprägt ist wie von Verletzungspech. Seit seiner ersten Kranzfest-Teilnahme vor sechs Jahren hat Reichmuth erst ein gutes Dutzend weitere grosse Feste bestritten.
Drei Kreuzbandrisse innert fünf Jahren setzen ihn mehrheitlich ausser Gefecht. Nachdem er sogar ans Karrierenende gedacht hat, steigt er nach zwei Jahren Pause im Anschluss ans Eidgenössische in Estavayer 2016 (10. Platz) erst Mitte 2018 wieder ins Wettkampfgeschehen ein. Und startet gleich eine sagenhafte Erfolgsserie: Bei zwölf Starts dieses Jahr siegt er neunmal, viermal davon an Kranzfesten.
Spätestens seitdem ist er Königsanwärter. Womit bereits eine Sehnsucht in Erfüllung geht: «2007, als ich zwölf Jahre alt war, sprach man das erste Mal von einem Eidgenössischen 2019 im Grossraum Zug, damals noch mit dem Projekt Baar. Ich begann gleich zu rechnen und als Jungschwinger von einer Teilnahme zu träumen.» Jetzt wird der Traum wahr – jener von Reichmuth und vielleicht auch der eines ganzen Landesteils: Harry Knüsel, ebenfalls ein Chamer, war 1986 in Sion der letzte König aus dem Innerschweizer Teilverband. Die Sehnsucht im ISV ist gross.
Reichmuths Freude über den Festort Zug hat nicht nur logistische Gründe. Zum Vorteil, zwischen den beiden Wettkampftagen in der elterlichen Wohnung in Cham nächtigen zu können, kommt der emotionale Bezug zur Region: «Zug ist für mich Heimat. Ich finde die Gegend landschaftlich vielfältig wie keine zweite in der Schweiz. Und die Menschen hier sind sehr offen und zugänglich.»
Zudem «wirbt» der Königsanwärter für sein Reich auch mit der Lage: «Luzern ist 15 Fahrminuten entfernt, Zürich 20. Man hat so viele Möglichkeiten, auch was die Freizeit und den Ausgang betrifft, obwohl ich eher mal an einer ‹Hundsverlochete› im Festzelt zu finden bin als in einem der Zuger Klubs.» Landschaftlicher «Hotspot» des Kantons ist für Piri nebst der «kleinen, aber feinen Zuger Altstadt» der See. «Eine Schifffahrt darauf mit Sonntagsbrunch ist einmalig! Beim ESAF gibts dafür sogar Extrafahrten ab Arth ans Fest.»
Einen weiteren kantonalen Vorzug verschweigt Reichmuth nobel. Nicht nur die Steuern sind am Fuss des Zugerbergs tief. Wer hier Wohnsitz hat, kann auch anderweitige finanzielle Grosszügigkeit geniessen. Im Fall von Reichmuth sind das beträchtliche Stipendien für sein Studium. An der niederländischen Privatschule Thim van der Laan in Landquart GR lässt sich der gelernte Metzger zum Physiotherapeuten ausbilden.
Zwei der insgesamt 3,5 Studienjahre hat er hinter sich, jetzt folgt die Bachelorarbeit. Drei bis vier Tage pro Woche pendelt er dafür ins Bündnerland. Allerdings mit dem Auto und nicht mit seiner neuen Motorrad-Leidenschaft, der BMW 850 GS. Die nutzt er lieber ab und zu für eine Ausfahrt über die Hügel der lieblichen Zuger Landschaft.
«Die Motivation für dieses Studium kam durch meine Verletzungen, aber jetzt hat es mich gepackt, und ich will einmal in diesem Beruf tätig sein.» Anfänglich arbeitete Reichmuth noch einen Tag pro Woche in seinem gelernten Beruf, aber damit hat er aufgehört, um sich noch intensiver Studium und Sport widmen zu können.
Apropos Sport: Auch da hat Zug einiges zu bieten. Seit früher Jugend besucht der Schwingstar regelmässig die Eishockeyspiele des EVZ, «inzwischen allerdings eher seltener, nur noch als Schönwetter-Fan». Und auch Frauenhandball wird am Zugersee grossgeschrieben. Besonders in Piris Herz: Seit fünf Jahren ist er mit Marion Betschart, 25, liiert, die bis Ende letzter Saison das Tor des LK Zug hütete und mit diesem Schweizer Meisterin wurde. «Es ist schön und wichtig für mich, dass sie Verständnis hat für mein Sportlerleben, aber ein Handball-Fachmann bin ich deswegen nicht geworden», bekennt er augenzwinkernd.
Partnerin Marion wird indessen noch einen weiteren wesentlichen Beitrag geleistet haben, sollte es Reichmuth Pirmin auf den Thron des Schwingerkönigs schaffen. Stets am Vorabend eines Schwingfests bekocht sie ihren Herzbuben mit Spaghetti Carbonara. «Das ist Teil meines Wettkampf-Rituals, ebenso wie das Tessiner Mutschli mit Bündnerfleisch nach jedem Gang.»
Wo die Liebste allerdings nicht mehr zum Wohlfühlambiente beitragen kann, auf dem Wettkampfplatz nämlich, springen Reichmuths Brüder in die Bresche. Die Zwillinge Marco und Roland, 21, sind ebenfalls als Aktive beim Eidgenössischen im Einsatz. Vor allem Marco hat mit Rang drei auf der Schwägalp eben angedeutet, dass auch mit ihm zu rechnen ist. «Zum Glück könnte ich auf die beiden wohl frühestens im Schlussgang treffen», sagt Pirmin, «denn gerade mit Marco schwinge ich öfters, und er kennt mich längst so gut, dass ich ihn kaum noch bezwingen kann.» Eine «sehr, sehr enge Bindung» zu seinen drei Brüdern – der älteste der vier schwingt nicht – nennt es Reichmuth.
Wohl ähnlich eng wie zu seiner Zuger Heimat. Und sich in dieser zum Schwingerkönig zu küren, wäre das märchenhafte Ende einer unglaublichen Comeback-Story. Auch wenn wir Piri, wie gesagt, nicht als den Favoriten bezeichnet haben wollen.