Der Auftakt-Satz ist gespielt, die Stimmung erreicht ein erstes Mal schmerzerzeugende Dezibelwerte, endlich rast die La-Ola-Welle koordiniert rundherum im Cape Town Stadium. Roger Federer, 38, blickt von seiner Spielerbank fast wie ein Kind staunend ins proppenvolle riesige Rund.
Einige Tage zuvor haben sich hier noch ein paar hundert Unentwegte verloren, um zu sehen, wie sich auf dem Rasen der Cape Town City FC gegen Bidvest Wits abmüht. Nun johlen Zehntausende auf Englisch, auf Afrikaans, auf Xhosa und erstaunlich viele auch auf Schweizerdeutsch. Dann ruft der Entertainer auf dem Platz den Satz ins Mikrofon, der die Euphorie der Einheimischen explodieren lässt: «Let’s celebrate now that Roger finally made his way back home!» – Lasst uns jetzt feiern, dass Roger endlich nach Hause zurückgefunden hat.
Federer ist in Kapstadt – und keineswegs in Basel. Und mit «zu Hause» meint der Speaker nicht die Schweiz, sondern das Land am Kap der Guten Hoffnung. Die ist allerdings vergeblich, wenns um die vereinnahmenden Erwartungen an den Maestro geht. Klar braucht eine Nation, die seit Jahrzehnten unter den Folgen der Apartheid leidet, dringend Symbolfiguren mit Strahlkraft. Immer und immer wieder beantwortet Roger Federer denn auch die gleiche Frage während seiner Woche hier: «Ja, ich fühle mich im Herzen extrem verbunden mit Südafrika. Aber meine Heimat ist und bleibt die Schweiz.»
Der Tenniskünstler aus Basel hat in seiner Karriere schon viel erlebt an öffentlichen Begehrlichkeiten rund um seine Person. Aber jetzt, wo sich seine Aktivzeit dem Ende zuneigt, erfährt auch er nochmals eine neue Dimension. Aus Dubai reist er nach Windhoek. In Namibia besucht er eines der Projekte seiner Foundation, trifft sich mit wichtigen Entscheidungsträgern. Selbst der Staatspräsident empfängt ihn zum Gespräch. Wenn Federer kommt, ist das nichts weniger als ein Staatsbesuch. Ohne diplomatisches Protokoll, aber mit endlosen Selfie-Wünschen.
Medien will der Regent des vereinigten Tennisreichs in Namibia keine dabeihaben. «Die Kinder sind viel unbefangener, wenn ich alleine komme. Ich kenne das von meinen Buben. Ich bin ein Experte für kleine Kids.» Federer lacht und meint es doch ganz ernst. «Ich glaube, die Projektkinder haben meist keine Ahnung, wer ich bin. Und das ist gut so, alles ist viel natürlicher.»
Wie recht er hat, zeigt sich tags darauf im kleinen Athletik-Stadion gleich neben dem Cape Town Stadium. Wie ein Sack voller Flöhe wartet eine Hundertschaft Buben und Mädchen im Vorschulalter auf Federer und dessen spanischen Matchpartner Rafael Nadal, 33. Mit zwei der berühmtesten Sportler der Welt machen die Kids aus zwei Townships in Hout Bay vor den Toren Kapstadts gleich eine Stunde lang Bewegungsspiele.
Alle dürfen sie ein T-Shirt des «Match in Africa» überstreifen. Auf dessen Vorderseite stellen zahllose Tennisbälle die Konturen des afrikanischen Kontinents dar. Wissen die Knirpse, was das bedeutet? «Ja, wir spielen mit Basketbällen», ruft eins der mutigeren unter den scheuen Kindern. Und als Janine Händel, die Schweizer Chefin der Federer Foundation, in die Runde fragt, wer wisse, was Tennis ist, blicken die Kids nur ratlos zurück. Nein, ein Sport für die Ärmsten der Armen wird Tennis noch lange nicht sein.
Spielt gerade jetzt keine Rolle für Roger Federer. Wie er mit den Knirpsen, die sich um und an ihn drängen, Reaktionsspiele macht – da ist er selber wieder ein fröhliches Kind. Seine Augen leuchten, obwohl er bereits einen mehrtägigen Marathon an Terminen mit Offiziellen, Verwandten oder Sponsoren hinter sich hat. «If You’re Happy and You Know It Clap Your Hands!» heisst das Lied, das die Kinder zum Mitsingen und Tanzen animieren soll. Doch weil sie den Einsatz verpassen, singt der Tennisstar halt solo ins Mikrofon. Eine Weltpremiere, exklusiv für benachteiligte südafrikanische Kinder!
Rafael Nadal daneben amüsiert sich köstlich. Gut zu erkennen: Die zwei Rivalen mögen sich. «Ich habe gesehen, wie emotional Roger wird in diesem Umfeld», sagt Nadal später, «und es macht mich stolz und dankbar, dass er mich für würdig hält, Teil dieses grossartigen Events zu sein.»
Nicht alle trauen sich so unbefangen in die Nähe der beiden Stars. Am Morgen des Spiels gibt es für den «Match in Africa» ein Fotoshooting mit Federer und Nadal mitten in der Stadt. Ein Mini-Tennisfeld auf der leer geräumten Grand Parade mit historischem Rathaus und Tafelberg im Hintergrund. Auch Cape Town will ins richtige Licht gerückt sein. Eine Ankündigung hat es nicht gegeben.
Die meisten Zuschauer sind Passanten. Erst die Ankunft eines Fahrzeugtrosses, angeführt von mehreren Polizeifahrzeugen mit Blaulicht, macht sie darauf aufmerksam, dass hier gleich etwas Bedeutendes passiert. Viele von ihnen wagen sich nicht zu den eingezäunten Zuschauerplätzen, sondern spähen verwundert durch die Löcher in den Sichtblenden am Zaun um den Platz. Einige der ärmlicher gekleideten Zaungäste vornehmlich schwarzer Hautfarbe schütteln fragend den Kopf. Wer mögen die zwei Männer in Sportkleidung nur sein, um die so viel Aufhebens gemacht wird?
Roger Federers Mutter Lynette, 67, gebürtige Südafrikanerin, erzählt von ihrer Liebe zum Land. «Natürlich ist das emotional für mich, für diesen Event hierher zurückzukehren. Seit unsere Enkel da sind, kommen wir nicht mehr so oft ans Kap. Aber in diesen Tagen treffen wir all unsere Verwandten und Freunde hier wieder.» Auch für sie, Ehemann Robert, 73, und Rogers Frau Mirka, 41, ist der «Match in Africa» zwar ein einzigartiges Erlebnis, aber ebenfalls mit einem üppigen Programm befrachtet. «Für die vier Zwillinge wäre das alles etwas viel gewesen», sagt die engagierte Grossmama. Deshalb sind die Kinder von Roger und Mirka zu Hause geblieben.
Ihr grosses Heimspiel hat Lynette Federer dann am Abend vor 51 954 Zuschauern im Stadion und Millionen am südafrikanischen TV. Die euphorische Ankündigung ihres Auftritts lässt sie im Stil einheimischer Folkloregruppen über den Laufsteg zur Bühne tänzeln, wo Roger sie in die Arme nimmt. Emotionen pur, das verdächtige Glänzen in den Augen des Tennishelden entgeht niemandem, Grossleinwand sei Dank. Lynette Federer begrüsst das Publikum herzlich auf Afrikaans und Englisch.
Dass dann beim vorgängigen Doppelmatch mit Software-Gigant Bill Gates und dem südafrikanischen TV-Star und Late-Night-Talker Trevor Noah (sein Vater ist Schweizer) zwei weitere Prominente von Weltformat neben Federer und Nadal auf dem Platz stehen, geht fast unter in der allgemeinen Federer-Mania.
Der Meister selbst erweist Südafrika noch eine besondere Reverenz. Beim Einspielen trägt er das Trikot der Rugby-Nationalmannschaft, das ihm deren Weltmeister-Captain Siya Kolisi auf dem Platz überreicht hat. Den Tennismatch gibts schliesslich auch noch, doch der absehbare Drei-Satz-Sieg Federers gegen Nadal ist an diesem Abend tatsächlich nur eine Randnotiz.
Alles gut in Südafrika? Fast könnte man meinen, als ein junger Solist des Ndlovu Youth Choir im Stadion das Volkslied «Shosholoza» anstimmt und ein vieltausendköpfiger Chor von schwarzen und weissen Menschen unisono mitsingt. Etwas Pathos darf sein. Der Rest ist Volksfest, Musik, Trubel – und mittendrin Roger Federer, der Ballkids, Artisten und Helferinnen reihum herzt und dazu strahlt wie noch selten.
Nicht nur seiner Foundation wegen: Ein bisschen Heilsbringer ist Federer gewiss für Südafrika. Auch wenn er einer der unseren bleibt.