Die Mauern des Kremls werfen lange Schatten aufs Kopfsteinpflaster. Beim Denkmal des unbekannten Soldaten flackert die ewige Flamme im Winterwind. Moskau, Ende Dezember; das Thermometer scheint festgefroren. Im Sarjadje-Konzertsaal im Herzen der russischen Hauptstadt ist von der unterkühlten Atmosphäre nichts zu spüren. Die 1600 Plätze im mondänen Amphitheater sind vollbesetzt. Gespannt wartet das Publikum auf die Neuinszenierung von «Rotkäppchen und der Wolf». Eine verträumte Nervosität liegt in der Luft. In den hintersten Reihen greift eine Zuschauerin zum Operngucker.
«Tanzen ist Träumen mit den Beinen», so ein nordisches Sprichwort. Wer Laura Fernandez-Gromowa bei ihrer Leidenschaft zuschaut, erhält eine Vorstellung davon, was die Worte bedeuten: Spitzentanz mit federnder Leichtigkeit, das gedrehte Fouetté mit peitschenartiger Dynamik, ein Grand Jeté mit einer Souplesse, als sei der Spagatsprung die normalste Form der menschlichen Fortbewegung. Laura scheint durch die Inszenierung zu schweben – und sie tut es mit einer der schillerndsten Figuren der Szene – Sergei Polunin, 30, Genie und Enfant terrible des Tanzes, der durch die Härte des Geschäfts und die Last des Ruhms an den Rand der Selbstzerstörung getrieben worden war.
Doch heute ist alles anders. In Moskau löst Sergei Polunin mit Laura Fernandez Jubelstürme aus. Fasziniert verneigt sich das Publikum vor einer jungen Schweizerin, die auf dem Weg nach oben keinen Aufwand scheut und ihren Traum mit Schmerzen und Leiden bezahlt. In diesem Moment sind alle Mühen und Entbehrungen vergessen: «Es ist eine wunderbare Erfahrung, als Solistin auf dieser Bühne zu tanzen», sagt sie sichtlich gerührt. Und auf ihren berühmt-berüchtigten Partner angesprochen, fügt sie an: «Sergei ist eine Legende des Balletts.»
Die zierliche Frau spricht waschechtes Schwiizertütsch. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Laura beherrscht auch das Russische perfekt. Ihre Mutter Natalia stammt aus der Ukraine und vermittelte der Tochter früh Kultur und Lebensgefühl des Ostens. Dass Laura als Tänzerin den Weg nach Russland ging, ist für die Mutter schon fast ein übersinnliches Zeichen: «Laura ist ihrer russischen Seele gefolgt.»
Anfangs war es vor allem die mütterliche Leidenschaft für die musischen Künste, die Laura den Zugang zu dieser Welt öffnete. Natalia erinnert sich: «Ich liess Laura das Klavierspielen ausprobieren, schickte sie in den Theaterunterricht und mit sechs Jahren in die Ballettschule.» Sukzessive habe Laura mehr Zeit ins Tanzen investiert. Der Vater, Software-Unternehmer Francisco Fernandez, beobachtete das Tun seiner Tochter mit Skepsis: «Er hätte es lieber gesehen, wenn Laura eine konventionelle Ausbildung eingeschlagen hätte, mit Gymnasium und danach Universität», erzählt Natalia.
Laura aber tanzte durch ihre Jugend – und verzichtete dabei auf vieles, was für ihre Alterskolleginnen normal war: «Ballett auf diesem Niveau ist wie Spitzensport. Man muss einiges für diesen Traum opfern – fast die ganze Kindheit, einen grossen Teil der Freizeit und des Privatlebens.»
Als sie im Alter von zehn Jahren vor der Entscheidung stand, ihre schulische Ausbildung an ein privates Institut zu verlegen, um mehr Zeit für den Ballettunterricht zu haben, wollte der Vater sein Veto einlegen. Zu unsicher schien ihm die Perspektive seiner Tochter in diesem harten Geschäft. Die Mutter allerdings liess nicht locker und nahm Kontakt mit der Direktorin der Schule des legendären Bolschoi-Theaters in Moskau auf. Laura sollte dort vortanzen und eine verbindliche Einschätzung ihres Potenzials erhalten.
Gesagt, getan: Die Fernandez-Familie flog in die russische Hauptstadt, und Laura trat zum Ballett-Casting an – mit durchschlagendem Erfolg. Ihre Grazie und Eleganz, aber auch ihr Wille und ihre Zielstrebigkeit überzeugten die gestrenge Direktorin. Doch Moskau war für die Primarschülerin zu weit weg. Stattdessen wurde sie an der Zürcher Tanz-Akademie aufgenommen und arbeitete sich dort Schritt für Schritt nach oben. Russland aber blieb ein Thema. Für das letzte Jahr ihrer Ausbildung wurde Laura an die prestigeträchtige Waganowa-Schule in St. Petersburg eingeladen – von Direktor Nikolai Ziskaridse höchstpersönlich.
Zum Schlüsselereignis sollte aber ein Wettbewerb in der Schweiz werden – der Prix de Lausanne 2016. Laura verzückte die Jury und holte vier Auszeichnungen.
Noch viel wichtiger aber war: Sie gewann ein Preisgeld von 16'000 Franken und konnte unter Ausbildungsangeboten von weltweit 33 Ballett-Akademien wählen. Gleichzeitig machte ihr Juri Fateyew, der mächtige Ballettchef des Mariinski-Theaters, ein Angebot. Laura hatte die Qual der Wahl. Sie verzichtete auf den Lausanner Preis und schloss sich (für einen besseren Lehrlingslohn) dem Corps de Ballet am Mariinski an.
Wenn Laura von ihrem Alltag erzählt, wirkt dies wie eine Anleitung in Disziplin und Selbstkasteiung. Der grösste Luxus, den sie sich gönnt, ist griechisches Joghurt mit Kakao-Pulver sowie Kaffee mit Kokosmilch zum Frühstück. Dann gehts ab ins Fitnesszentrum, von dort ins Theater zum Individualtraining und später zum Einzelunterricht, danach zu den Proben mit dem Ensemble und dann ins Fitnesszentrum am Theater zum Lauf- und Hanteltraining.
Danach folgt das Mittagessen im Theater-Buffet – wie auch das Abendessen nach einem strikten Diätplan: «Kein Zucker, nicht zu viel Fett, viel Proteine und Gemüse, Gemüse, Gemüse», sagt Laura. Alkohol komme für sie nicht in Frage.
Am Nachmittag gehts im ähnlichen Stil weiter. Aufwärmen, Stretchen, Pilates. Ab 15.15 Uhr Proben – und am Abend die Vorstellung. Anders als beispielsweise im Zürcher Opernhaus, wo Ballettvorführungen nur einen kleinen Teil des Programms ausmachen, wird in den russischen Häusern an jedem Tag getanzt. Für Laura endet der Arbeitstag normalerweise zwischen 21 und 22.30 Uhr: «Am Anfang fiel ich jeweils total kaputt ins Bett. Mittlerweile komme ich mit der physischen Belastung aber gut zurecht.» Ihre Füsse sind von dieser Einschätzung ausgeschlossen. Sie zeugen von stundenlangem Üben unter Höchstbelastung: «Für Pediküre habe ich keine Zeit», sagt Laura lachend. Es ist kaum ein Zufall, dass der renommierteste Orthopäde in St. Petersburg seine Praxis direkt neben dem Mariinski-Theater führt.
Die körperliche Belastung ist nicht der grösste Druck, den sie zu ertragen hat. Vor allem mental verlange das Ballett alles ab. Der Umgangston der Vorgesetzten ist schonungslos und gelegentlich entwürdigend. Die gertenschlanke Schweizerin wurde schon als «dick und hässlich» beschimpft. Und als sie in einer Probe den Einsatz verpasste, musste sie sich bei allen Mitgliedern des Ensembles persönlich entschuldigen. Schon oft habe sie weinen müssen – vor Schmerzen oder wegen des psychischen Drucks. In diesem Moment wird die lebensfrohe Frau nachdenklich. Doch praktisch im selben Moment sagt sie: «Ich lebe meinen Traum, und ich bin bereit, diesen Traum mit Tränen und Schmerzen zu bezahlen.»
Bleibt die Frage, ob sie sich nicht nach ihrer Schweizer Heimat sehne. «Nein, ich bin zu beschäftigt, um Heimweh zu haben.» Auch sonst behält sie ihr Ziel im Fokus – dereinst als gefeierte Solistin über die grössten Bühnen zu tanzen. So schlug sie unlängst eine Offerte der Schweizer Erfolgsshow «Art on Ice» aus. Und kündigte ihren Vertrag am Mariinski, um mit Polunin zu tanzen. Der riskante Entscheid sollte sich lohnen: Heute liegen der Schweizerin Angebote von drei traditionsreichen Theatern vor – vom Bolschoi und Stanislawski in Moskau sowie vom Michailowski in St. Petersburg. Wer Laura Fernandez auf der Bühne beobachtet, ist sich ohnehin sicher: Diese junge Frau wird die Sterne vom Himmel holen.
Das russische Ballett geniesst Weltruf. Es wird im Ausland vor allem mit dem Bolschoi-Theater in Moskau und dem Mariinski-Theater in St. Petersburg gleichgesetzt. Der Konkurrenzkampf in diesem Metier ist gross, der Leidensdruck immens. Nur fünf Prozent der Ballettschüler(innen) an den grossen Akademien schaffen es in ein renommiertes Ensemble. Das Zeitfenster für eine Karriere bleibt eng: Mit 35 Jahren beginnt für die meisten Ballerinas das Rentenalter. In Moskau kostet eine Stunde Ballettunterricht auf hohem Niveau 50 Franken.