Unter dem Dach seines Firmensitzes im deutschen Tiengen, gleich neben der Schweizer Grenze, liegt Heinrich Villigers Vorzeigebüro: ein hoher Raum mit Teppichboden und schweren Holzbalken, zwei halb leeren Schreibtischen, einem Ledersofa und präparierten Antilopenköpfen – er hat die Tiere in Afrika eigenhändig erlegt. Hier oben ist Villiger fast nie.
Im ersten Stock gleich über dem Empfang befindet sich sein zweites Büro: ein kleines Zimmer mit einem Tisch, auf dem die Papierberge steil nach oben wachsen und ein riesiger Drucker täglich Dutzende Papiere ausspuckt. Hier ist er fast jeden Tag.
Seit 72 Jahren arbeitet Heinrich Villiger in der Zigarrenfabrik, die einst sein Grossvater gegründet hat. 1888 als kleine Manufaktur gestartet, ist die Firma heute ein internationales Unternehmen mit 1600 Angestellten. Gerade letzten Herbst hat Villiger nach Nicaragua expandiert – mitten in der Pandemie. Die Nachfrage nach handgemachten Zigarren sei während Corona eher noch gestiegen. «Die Leute rauchen mehr, weil sie mehr zu Hause sind», sagt Villiger und zündet sich eine Zigarre an – es ist seine erste von drei an diesem Tag.
Mehrmals hat der 91-Jährige versucht, seine Nachfolge zu regeln – vergeblich. Von seinen vier Kindern wollte keines in die Firma einsteigen. Darum hat er vor einigen Jahren vier Geschäftsführer eingestellt, die sich um Administration, Technik und Vertrieb kümmern. «Sie könnten die Firma auch ohne mich führen», sagt Villiger. Aber wenn es um Innovationen gehe, kenne niemand den Markt so gut wie er. Noch immer sitzt er sechs Tage die Woche in seinem Büro, im kleinen – «ich will mitbekommen, was läuft».
Heinrich Villiger ist ein Patron alter Schule. Er hat eine klare Meinung, hält Wort und schätzt zuverlässige Mitarbeiter. Weil er selbst der Pflicht gefolgt ist. Sein Vater holt ihn direkt nach der Matura in den Familienbetrieb. Der junge Heinrich hat keine Wahl, obwohl ihm ein Studium lieber gewesen wäre. Als der Vater stirbt, übernehmen er und sein jüngerer Bruder Kaspar die Zigarrenfabrik. Ab 1989 – Kaspar wird Bundesrat – ist Heinrich alleiniger Chef.
Ein Chef, der mit viel Herz führt. So steht die Tür zu seinem Büro eben auch offen, damit die Angestellten weniger Hemmungen haben einzutreten. Wie die Frau aus der Tabakproduktion, die eines Abends in seinem Büro stand und fragte, ob sie im Sanitätszimmer übernachten dürfe – sie habe Probleme mit ihrem Mann. Villiger willigte ein und beauftragte den Nachtwächter, hin und wieder bei der Frau vorbeizuschauen.
Seit zwei Jahren arbeitet Heinrich Villiger «nur» noch von 14 bis 21 Uhr. Ein Zusammenbruch in Brasilien hat ihn daran gemahnt kürzerzutreten. Im Spital in Salvador mussten ihm die Ärzte einen Herzschrittmacher einpflanzen. Ausgerechnet ihm, der vor vier Jahren zur Schweizer Illustrierten sagte: «Ich will keinen Herzschrittmacher, damit stirbt man ja nicht.» Nun hat er doch einen. «Leider auf der falschen Seite», sagt Villiger. Das Gerät wurde just an jener Stelle implantiert, wo der Gewehrkolben beim Rückschlag auf die Brust drückt.
Seither muss er auf seine geliebte Jagd verzichten. Auch das Velofahren hat ihm seine Frau verboten. Er schwanke zu stark. Nur seinem Mercedes-Geländewagen bleibt er treu (auch wenn seine Frau nicht mehr bei ihm einsteige). Täglich fährt er von Full-Reuenthal AG, wo er wohnt, nach Tiengen.
Villiger ist kein Freund von Verboten. Nicht zuletzt, weil er seit über einem halben Jahrhundert in einer Branche arbeitet, die unter Dauerbeschuss steht – wie gerade aktuell wieder. Am 13. Februar sagt die Schweiz voraussichtlich Ja zu einem Werbeverbot für Tabakprodukte. Überall dort, wo Kinder und Jugendliche Tabakwerbung sehen können – etwa auf Plakaten oder in Gratiszeitungen –, soll sie untersagt werden. «Die ganzen Aktivitäten gegen den Tabak sind ein ‹Perpetuum mobile›, an das ich mich gewöhnt habe», sagt Villiger. Er wehre sich nicht gegen den Jugendschutz. Im Gegenteil: «Wenn sich Schülerinnen und Schüler am Bahnhof in Tiengen eine Zigarette anzünden, ist das bedenklich.» Aber er sei gegen ein Verbot von Tabakwerbung. «Jugendliche beginnen nicht wegen Plakaten mit Rauchen, sondern aus Gruppendruck.» Die Initiative sei «ein unverhältnismässiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit».
Seinen eigenen Kindern hat er das Rauchen nie verboten. «Sie waren vernünftig genug, nicht damit anzufangen.» Er selbst habe nie Zigaretten geraucht. Dafür sei er zu sehr Genussmensch. Neben Zigarren mag Villiger schnelle Autos, feurige Kunst und einen geruhsamen Schlaf («Ich brauche zwölf Stunden»). Und er gönnt sich den Luxus, ohne Computer und Handy auszukommen. Seine Korrespondenz erledigt er mit der Schreibmaschine und legt sie dann einer Mitarbeiterin hin. Diese scannt seine Post ein und mailt sie in seinem Auftrag weiter.
«Wenn es kein Kohlepapier mehr gibt, lasse ich mich vielleicht pensionieren», scherzt Villiger. Bis dahin lenkt er die Geschicke seiner Firma per Schreibmaschine. Eine thront im Büro unter dem Dach, die andere ächzt im ersten Stock unter Papierbergen.