Sie wirkt an diesem Morgen daheim in Gossau SG, als sei ihr eine riesige Last von den Schultern gefallen. Sie lacht ausgelassen, als sie Seifenblasen durch die Luft schweben lässt. Und trotz wenig Schlaf sieht Giulia Steingruber frisch und glücklich aus.
Die Kunstturnerin hat allen Grund zur Freude. An der Heim-Europameisterschaft in Basel vergangene Woche zeigt sie nach eineinhalbjähriger Wettkampfpause: Sie gehört nach wie vor zu den Besten. Die Ostschweizerin tritt trotz Muskelfaserriss und Schmerzen im Oberschenkel an. Und gewinnt zum vierten Mal in ihrer Karriere EM-Gold im Sprung – mit grossem Abstand.
Verschobener Traum
Ein Blick zurück verrät: Das ist alles andere als selbstverständlich. Vergangenes Jahr, ausgerechnet an ihrem 26. Geburtstag, wird Olympia in Tokio – Steingrubers grosses Karriereziel – um ein Jahr auf Sommer 2021 verschoben. Die Turnerin fällt in ein Loch. «Ich wusste wirklich nicht: Kann ich nochmals ein Jahr anhängen? Kann ich nochmals diese Kraft – mental und körperlich – aufbringen?» Nun hat sie die Gewissheit: Sie kann.
Typisch Giulia. Wenns drauf ankommt, bringt sie ihre beste Leistung. Eineinhalb Wochen hat sie ihre Sprünge – den Tschussowitina und den Jurtschenko mit Doppelschraube – im Training nicht mehr probiert. Doch im wichtigsten Moment wächst die Olympia-Bronze-Gewinnerin von Rio 2016 abermals über sich hinaus. Genau wie hinter den scheinbar mühelosen Turnelementen knochenhartes Training steckt, verlangt Giulia ein solcher Effort bei all den Widerständen mental alles ab. «Ich war brutal nervös.»
Sie weiss: «Den Druck mache ich mir selber. Und er wird von Jahr zu Jahr grösser.» Wie sich das genau äussert? «Mein engstes Umfeld hielt mich kurz vorher kaum aus, weil ich so mühsam war», sagt die 27-Jährige, die einen Freund hat, ihr Privatleben aber aus der Öffentlichkeit raushält. Mami Fabiola Steingruber führt aus, was ihre Tochter damit meint: «Am besten keine Fragen stellen und gut gemeinte Tipps vermeiden. Wenn ich ihr etwa sage, sie solle doch mal raus an die Sonne, sie sei ein wenig bleich, dann kommt das nicht gut an.» Gleichzeitig ist es dieses Wohlwollen und die Möglichkeit, sich ihren Eltern stets anzuvertrauen, die Steingruber so stark machen, wie sie immer wieder betont.
Olympia als Ziel
Am Abend vor dem Mehrkampffinal schickt Fabiola Steingruber ihrer Tochter eine Nachricht. «Willst du das wirklich machen? Es ist doch okay, wenn es nicht geht.» Giulias Antwort ist kurz und unmissverständlich: ja. «Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist es schwierig, sie davon abzubringen», sagt die Mutter. Auf Anraten ihres Trainers und des medizinischen Teams entscheidet sich die Sportlerin dann doch gegen einen Start im Mehrkampf- und im Bodenfinal – zugunsten des grösseren Olympia-Ziels.
Steingruber hat aus der Vergangenheit gelernt. Sie weiss, wie nahe Höhenflüge und zerplatzte Träume manchmal beieinanderliegen. Oft wollte sie schon zu viel. So etwa im Juli 2018, als sie übermüdet und mit Hexenschuss an einem Wettkampf antritt – und sich schliesslich das Kreuzband reisst. Nach langwieriger Reha sagt sie damals: «Wenn ich heute wieder in die gleiche Situation der Überbelastung kommen sollte, würde ich wohl das Gespräch suchen mit dem Trainer.»
Der Trainer
Frauen-Nationalcoach Fabien Martin, gegen den wegen Vorwürfen des verbalen Missbrauchs zweier ehemaliger Athletinnen eine Untersuchung läuft. Steingruber sagt: «Ich kann nur über meine Erfahrungen reden – und die waren immer positiv.» In einem offenen Brief stellt sich vergangenes Jahr das gesamte Nationalkader hinter den Trainer: «Wir alle sind sehr glücklich, in einem äusserst gesunden und familiären Klima in der Halle trainieren zu können. Es herrscht eine offene und ehrliche Kommunikation.» Von den Unruhen im Verband lassen sich auch die Männer an der EM nicht beeinflussen: Benjamin Gischard, 25, gewinnt Silber am Boden und Christian Baumann, 26, Bronze am Barren. «Ich freue mich mega für die beiden, bin stolz auf sie. Wir sind auch Freunde abseits der Turnhalle», sagt Steingruber. Es passt zu ihr, dass sie Erfolgsmomente und Rampenlicht gerne teilt.
Stolpersteine haben Steingruber schon immer stärker gemacht. Der Kreuzbandriss sowie die schwierige Zeit 2017. Damals kämpft sie sich nach einer Fuss-OP zurück und muss – noch viel schlimmer – den Tod ihrer Schwester Désirée verkraften, die seit Geburt körperlich und geistig behindert war.
Sudoku und Malerarbeiten
Auch wenn Steingruber viel durchgemacht hat: Sportlich sei die aktuelle Vorbereitungsphase nach Corona-bedingter Trainings- und Wettkampfpause die bisher schwierigste. Im Lockdown macht sie Home-Workouts mit ihrer Mutter, spielt Sudoku, erledigt Malerarbeiten im Elternhaus, fährt Velo mit dem Vater. «Einerseits konnte ich Energie tanken und Dinge tun, für die ich sonst nie Zeit hatte. Andererseits sind die Wettkämpfe mein Antrieb und das, wofür ich so viel investiere.»
Last auf den Schultern
Nun ist der Karrierehöhepunkt in absehbarer Nähe. Mit der Bodenübung, bei der sie sich 2016 in Rio verletzte und die sie an der EM nicht zeigen kann, hat sie eine Rechnung offen. Sich darauf versteifen möchte sie nicht: «Ich zähle nicht die Tage bis Olympia. Ich möchte mich auch nicht festlegen, ob und wie es danach weitergeht. Das wäre eine zu grosse Last auf meinen Schultern.»
Giulias Körper und Geist. Ähnlich wie die Seifenblasen, die sie gerade macht, tragen diese die Turnerin scheinbar schwerelos in grosse Höhe – und sind doch fragil. Mit Druck umgehen, die Energie bündeln und im richtigen Moment einsetzen – da helfen ihr regelmässiges Mentaltraining sowie seit einem Jahr eine Hypnosetherapie. «Ich habe mich dadurch auf eine ganz andere Art kennengelernt. Ich spüre mich und meinen Körper intensiver und kann meine Wünsche und positiven Gedanken noch tiefer verankern.»
Das nötige Vertrauen
Im Moment nimmt es Giulia Steingruber etwas ruhiger. Eigentlich wohnt sie unter der Woche in einer WG in Biel, doch nun kuriert sie ihre Verletzung zu Hause in Gossau aus. Nach den goldenen EM-Sprüngen hat sie das nötige Vertrauen: Sie weiss genau, was sie braucht, um im richtigen Moment das Schwierigste leicht aussehen zu lassen – allen Widerständen zum Trotz.