So ganz realisiert hat Giulia Steingruber noch nicht, dass ihre Turnkarriere wirklich zu Ende ist. Nach 13 intensiven, hochtourigen Lebensjahren im Leistungssport braucht sie ein bisschen Zeit, alles sacken zu lassen. Doch dass nun etwas anders ist, spürt sie etwa bei ihrem neuen Hobby, dem Töfffahren. Genauer: auf der Harley-Davidson. «Seit den Olympischen Spielen fahre ich viel freier und weniger verkrampft», sagt die 27-Jährige. Aber, und das ist für sie wichtig: immer vorsichtig und mit Respekt. Zumal sie ohnehin noch übt, die Prüfung folgt erst.
Traum vom Harley-Roadtrip in den Ferien
Fasziniert von Motorrädern ist die Ostschweizerin schon lange. Ursprünglich wollte sie die Töffprüfung sogar noch vor der Autoprüfung machen, woraus allerdings nichts wurde. Beschleunigt hat das neue Hobby nun ihr Freund, Motocrossfahrer Alan Ulmann, 25. Dessen Onkel besitzt ein Harley-Geschäft, mit dem er ihn während seiner Töffkarriere unterstützte. Da er wegen der Ausbildung sportlich gerade kürzertritt, kam beim Paar die Idee mit der Töffprüfung auf. Nun dürfen sie zwei Harleys aus dem Geschäft fahren, eine Low Rider S und eine XG 750. Giulias Traum: mal in den Ferien einen Roadtrip machen.
«Die Aufs und Abs haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin»
Giulia Steingruber
Mit der Harley in den neuen Lebensabschnitt cruisen – das klingt nach dem richtigen Tempo für eine solch einschneidende Veränderung. Nicht mit Vollgas, sondern mit Bedacht. Den Leistungssport verlässt Steingruber mit Superlativen: Sie ist die erfolgreichste Schweizer Kunstturnerin der Geschichte, die erste Schweizer Turnerin mit einer Olympia-Medaille – nach 48 für die Männer. Dazu kommen WM-Bronze, sechs EM-Titel und vier weitere EM-Medaillen. Ein Aushängeschild mit Strahlkraft, durch ihr Lachen und ihre Bescheidenheit beliebt beim Publikum. Über so viele Jahre konstant an der Spitze zu turnen, ist alles andere als selbstverständlich.
Absolutes Karriere-Highlight: Das Jahr 2016
Aber auch Rückschläge haben sie geprägt. Das Wissen darum, dass sie kämpfen kann, nicht aufgibt, ein grosses Durchhaltevermögen hat, das nimmt sie aus dem Sport mit. «Die Aufs und Abs haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.» Obenaus schwingt 2016, wo Steingruber einen Lauf hat, von EM bis Olympia abräumt. Und sich danach zwei Monate Auszeit gönnt, mit einer Freundin durch Australien reist, unerreichbar für Verpflichtungen. «Ich denke nicht, dass ich diese letzten fünf Jahre sonst hätte durchziehen können.»
«Stolz? Ich muss mich nicht unbedingt feiern für das, was ich erreicht habe»
Giulia Steingruber
Denn nach dem Superjahr folgt eine Herausforderung nach der anderen. Verletzungen, die einen langwierigen Weg zurück erfordern wie
die Fussoperation 2017 oder ein Kreuzbandriss 2018. Dazu der Tod ihrer älteren Schwester Desirée, die schwer behindert war, «eine mega schwierige Zeit». Giulia verbringt eine Woche zu Hause mit der Familie, kehrt dann aber nach Magglingen ins Leistungszentrum zurück. «Ich sagte: Es muss weitergehen. Sonst wäre ich wohl in ein extremes Loch gefallen.» Denn das hat ihr seit je geholfen: In der Turnhalle ist die Konzentration zu 100 Prozent beim Sport; draussen ist man wieder die Privatperson, kann trauern. Heute hat sie gelernt, mit dem Verlust umzugehen, manchmal ist er präsenter, manchmal weniger stark, aber immer da.
Worauf ist Giulia Steingruber stolz in ihrer Karriere? «Oh, darin bin ich schlecht», sagt sie und lacht. «Ich muss mich nicht unbedingt feiern für das, was ich erreicht habe.» Für die historischen Komponenten ihrer Karriere findet sie kaum Worte, und die Zurückhaltung passt zu ihr. Sie fühlt sich im Hintergrund wohler als im Rampenlicht. Sie macht die Dinge gerne mit sich selber aus. «Ich bin kein Mensch, der gross das Gespräch mit anderen sucht.» Sie müsse manchmal fast ein bisschen gezwungen werden zu reden, obwohl sie wisse, dass es guttue. «Aber mein Umfeld kennt mich so gut – alle wissen, wann sie reagieren müssen, weil ich von selbst nicht aus mir rauskommen würde.»
«Die letzten Jahre waren kräftezehrend und nervenaufreibend»
Der Rücktritt fordert ihr Respekt ab, viele Athletinnen und Athleten fallen nämlich in dieser Phase in ein Loch. Während der Kunstturnkarriere gibts kaum Zeit zum Durchatmen und Verarbeiten; im Frühling sind jeweils Europameisterschaften, im Herbst Weltmeisterschaften, es geht pausenlos weiter. «Die letzten Jahre waren kräftezehrend und nervenaufreibend», sagt Steingruber.
Und doch möchte sie momentan ganz bewusst keine Auszeit nehmen. Sie hat im April eine Weiterbildung in Marketing-Management an der Höheren Fachschule Schwyz begonnen, damit sie auch nach dem Rücktritt eine Struktur im Alltag hat, nicht ohne etwas dasteht. Zudem hilft sie im Nachwuchs als Trainerin aus. Diese Ausbildung möchte sie dereinst abschliessen, um ihre Erfahrungen weiterzugeben.
«Seit den Olympischen Spielen fahre ich viel freier und weniger verkrampft»
Giulia Steingruber
Steingruber hat es immer geschafft, sich nicht nur in der Kunstturn-Bubble im abgelegenen Magglingen aufzuhalten, sondern daneben noch ein Privatleben zu führen. Sie hat ihre Meinung – «ich bin sehr stur und gebe nicht gerne nach» – und die Balance zwischen Disziplin, Seriosität und dem alltäglichen Leben gefunden. War sie bis 2015 sehr strikt mit sich selber, spürt sie danach, dass es ihr extrem guttut, auch mal mit Freunden etwas trinken zu gehen, den Kopf zu lüften. Das ist «wie aktive Erholung» von der physisch wie psychisch äusserst fordernden Sportart. In all den Jahren im Seeland hat sie sich ein Umfeld geschaffen, sodass sie nun nicht in ihre Heimat Ostschweiz zurückkehrt, sondern in Biel bleibt, wo sie mit Alan zusammenlebt.
Träumen von einem Festivalsommer
Nun träumt sie davon, nochmals länger zu reisen. Und nach der Pandemie einen richtigen Festivalsommer zu erleben – das war als Sportlerin nie möglich. Zudem reizen sie neue Sportarten, etwa Kickboxen oder Thaiboxen, wobei sich der Bewegungsdrang gerade jetzt noch in Grenzen hält. Und dann steht da ja noch die Töffprüfung an. «Das Harley-Fahren gibt mir einfach ein Gefühl von Freiheit», sagt sie. Mit 27 hat sie schon eine äusserst erfolgreiche Karriere hinter sich – es ist eine neue Freiheit, die Giulia Steingruber überall dahin tragen kann, wohin sie möchte.