Wer die Szene beobachtet, ist kurz irritiert. Der junge Mann fährt in seinem Rollstuhl bis zum Treppenabsatz, steht auf, geht, seinen Rollstuhl schiebend, die wenigen Stufen hinunter und setzt sich wieder. Dann lacht er verschmitzt über seinen Coup. Das Lachen fiel Giuliano Carnovali lange Zeit schwer. In der Silvesternacht auf das Jahr 2019 fährt der heute 26-Jährige mit seinen Freunden von einer rauschenden Party nach Hause. Im Zug. Er hat Alkohol getrunken. Wie es an Silvesterfeiern nichts Ungewöhnliches ist.
Im Zürcher Kreis 3 steigt er aus einem Wagon der Uetliberg-Bahn, stolpert über das Trittbrett und fällt zwischen Zug und Perron. Der Wagen rollt los – Giuliano erleidet schwerste Oberkörperverletzungen. Mehrere Rückenwirbel sind gebrochen, das Zugrad hat seinen rechten Unterarm abgetrennt. Die Ärzte im Unispital nähen die Gliedmasse in einer stundenlangen Operation wieder an. Ein Eingriff von vielen. «An den Unfall kann ich mich nicht erinnern», sagt Giuliano Carnovali. «Mir war schnell klar, dass alles anders ist. Ich habe meine Beine nicht mehr gespürt, wusste, das ist etwas, das nicht einfach wieder heilt.» Komplette Paraplegie lautet die unbarmherzige Diagnose. Und es ist auch nicht klar, welche Funktionen der abgetrennte Arm zurückerlangen würde. «Ich habe mich gehasst», erinnert Giuliano sich. «War verzweifelt. Hässig. Das hätte mir nicht passieren dürfen.»
Heute lacht Giuliano Carnovali unablässig. Er hat sich in seinem neuen Leben zurechtgefunden. Der junge Zürcher mit italienischen Wurzeln arbeitet in einem Teilzeitpensum bei einer Pensionskasse, ist dort erste Instanz bei Kundenanfragen. Noch vor dem Unfall hat er eine KV-Lehre abgeschlossen und die Berufsmatura absolviert. Neben dem Job studiert er seit kurzem Wirtschaft und Sportmanagement. Dank einem umgebauten Auto ist er mobil. Und er hat eine neue Leidenschaft entdeckt: das Rollstuhltennis.
Die Heilung dauert lange. Körperlich und mental. Liebevoll unterstützt wird er von seinen Eltern, der damaligen Freundin, den beiden älteren Brüdern, seinem Freundeskreis, der sich kaum verändert hat. Ein Foto von ihm und seinen Brüdern hat er als Tattoo auf dem Bein verewigt. «Es ist ein Prozess», sagt Giuliano Carnovali. Er habe viele Themen verarbeiten müssen, den Unfall selbst, die Einschränkungen, die Erkenntnis, das einiges nicht mehr geht. Vieles aber eben doch: Carnovali hat Glück, nach rund neun Monaten spürt er auf einmal ein Zucken in seinen Beinen. Er schafft es, eine gewisse Kontrolle über sie zurückzuerlangen.
Inzwischen kann er wieder stehen und ein paar Schritte gehen. Auch der Arm heilt. «Anfangs blickte ich ihn an, er sah schlimm aus. Ich fragte mich, ob eine Prothese nicht schöner gewesen wäre.» Heute ist er froh, dass er seinen Arm wiederhat. Er kann sogar das Handgelenk und die Hand bewegen, feinmotorische Tätigkeiten wie Schreiben sind aber nicht mehr möglich. Er will wieder Sport treiben. «Der Sport bedeutet mir die Welt. Ich kann mich auspowern, es ist Freiheit. Und wenn es mir schlecht geht, baut es mich auf.»
Das Rollstuhltennis entdeckt er in einem Camp – und weiss sofort, das ist es. «Ich habe viele Sportarten ausprobiert: Rugby, Leichtathletik, Fechten. Doch beim Tennis war mir sofort alles klar.» Dreimal pro Woche findet man ihn auf dem Platz. Dazu kommen Krafttraining und Physiotherapie. Er muss mit der linken Hand spielen, seiner ehemals schwächeren. Doch er macht rasch Fortschritte, ist seit Kurzem Mitglied des Schweizer Nationalteams und Schweizer Meister. Für die Paralympics in Paris war die Zeit zu knapp. «Das war nie das Ziel», resümiert er. «Aber in vier Jahren in Los Angeles will ich unbedingt dabei sein.»
«An Silvester habe ich heute ein mulmiges Gefühl»
Giuliano Carnovali
«Ich wollte die Menschen belehren»
Sein Leben, seine Fortschritte, seinen Optimismus – das alles hält er in den sozialen Medien fest. Hunderttausende folgen ihm auf Tiktok. «Am Anfang wollte ich aufklären. Wollte, dass die Menschen verstehen, was mit mir los ist. Ich dachte, ich müsse die Menschen belehren.» Das sei heute anders. «Ich möchte zeigen, dass das Leben auch nach einem solchen Unfall weitergeht, dass es lebenswert ist. Und die Social-Media-Beiträge sind auch eine Visitenkarte für meinen Sport.» Die grosse Liebe hat er auch über Social Media noch nicht gefunden. Er lebt allein in Zürich. «Das Daten macht mir aber keine Mühe. Vielleicht gibt es Frauen, die nicht mehr interessiert sind, wenn sie sehen, dass ich im Rollstuhl sitze.» Wieder lacht er verschmitzt. «Das ist aber ein ganz guter Filter. So kommen nur noch die guten.» Carnovali träumt davon, eines Tages eine Familie zu gründen, eine Karriere aufzubauen. Vielleicht auch als Motivationsredner. «Und ich würde gern irgendwo am Meer wohnen.»
Am meisten verändert hat sich seine Sichtweise auf das Leben, die Intensität, wie er es lebt. «Man bleibt am Boden und hofft, es wird nicht schlimmer.» Gerade wenn heftige Nervenschmerzen ihn nachts wach halten, wird ihm das bewusst. «Ich nehme es von Tag zu Tag. Die Zukunft kann einen überwältigen», meint er. Und wirkt für einmal nachdenklich. Zug fährt er inzwischen wieder. Doch Silvester feiert er seit dem Unfall nicht mehr. «Es ist nicht mehr so wie früher, es ist ein mulmiges Gefühl dabei.» Sofort findet er sein Lachen wieder. Was war, das war. Er will nach vorne schauen, die Dinge akzeptieren, wie sie sind. Giuliano Carnovali ist tief gefallen und wieder aufgestanden. Das Leben ist noch immer schön.