Früher sei er ein Aussenseiter gewesen, sagt Martin Neukom. «Ab der vierten Klasse wurde ich dann geselliger.» Heute möchten ihm Passanten in Winterthur die Hand schütteln. Und Neukom freut sich darüber.
«Langsam realisiere ich, was passiert ist», sagt der 32-jährige Winterthurer mit nasaler Stimme. Er wurde Ende März in den Zürcher Regierungsrat gewählt. «Das gute Resultat hat mich selber überrascht!»
Kein Wunder, denn Neukom ist auch als Aussenseiter in den Wahlkampf gestartet. So prophezeite der «Tages-Anzeiger» letztes Jahr, ihm stehe bei den Regierungratswahlen eine «Mission Impossible» bevor.
Seit 2014 sitzt der ehemalige Präsident der Jungen Grünen im Kantonsrat, allerdings ohne den Medien oder der breiten Bevölkerung gross aufzufallen. Nun ist Martin Neukom der erste Vertreter einer Welle, die nach den Klimastreiks auch in Luzern und Baselland grüne Politiker in die Regierung spülte.
Neukoms Büro – oder besser seine Werkstatt – befindet sich auf dem Sulzerareal in Winterthur. An der Wand hängen Kabel, auf den Tischen liegen grüne Platten voller komplizierter Technik. «Der einzige Nachteil meiner Wahl ist, dass ich meinen Job aufgeben muss», sagt Ingenieur Neukom etwas wehmütig. Das ZHAW-Spin-off Fluxim entwickelt Software für Solar- und Fotovoltaikanlagen.
Auf dem Tisch steht Neukoms Stolz: eine von ihm entwickelte blaue Box, mit der er testet, welche Materialien für Solarzellen geeignet sind. «Wir haben 40 Stück davon an Forscher auf der ganzen Welt verkauft.»
Der Klimawandel ist der Grund, dass Martin Neukom mit Politik anfing. Der Kampf dagegen ist für ihn eine Frage der Technik. «Ich verstehe nicht, wie Menschen derart emotional über Energiethemen diskutieren können.»
Ihm liege der moralische Zeigfinger nicht. Lieber begründet er konkret, warum er als Regierungsrat im Mai die Baudirektion übernehmen will. «Um einen Teil des Klimaproblems zu lösen: mit mehr Solaranlagen, mehr Sanierungen und weniger Ölheizungen.» Obwohl er privat mit Fernwärme heizt, sei er kein Heiliger. «Ich esse Fleisch und fliege geschäftlich ein- bis zweimal pro Jahr.»
Grün ist Martin Neukom beim Velofahren – immer mit Helm übrigens. «Bei meiner Frisur spielts ja keine Rolle!» Wenn das Wetter schlecht ist, geht er spazieren oder improvisiert auf dem Klavier Boogie-Woogie-Songs.
Wenn das Wetter gut ist, fährt er mit dem Bike durch die Wälder. Grün ist auch, dass Neukom nach unserem Mittagessen im Restaurant den Rest seines Wassers kommentarlos in einen nahen Pflanzentopf giesst, statt das Glas halb voll zurückzulassen.
Noch lebt der Single in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Winterthurer Altstadt. «In Zukunft könnte ich mir aber vorstellen, in einer selbst verwalteten Siedlung zu wohnen.» So wie seine Eltern in Oberwinterthur.
Dort, auf dem luftigen Balkon, erzählt sein Vater Thomas, 64: «Andere Kinder spielten Fussball, Martin interessierte das Universum.» Daher komme auch sein Cevi-Name: Galax.
Lili Neukom, 64, hatte 2001 eine Hirnblutung und musste fünf Wochen auf der Intensivstation bleiben. Eine Delle am Kopf zeigt die Spuren der Operation. Für Martin Neukom «eines der prägendsten Ereignisse».
Seither lässt seine Mutter Gefühle schneller raus als früher. Innert Sekunden wird der Stolz auf ihren Sohn zu Tränen, die aber schnell wieder versiegt sind. «Ich habe einen Ecken ab», sagt sie lachend, «andere auch, bei denen sieht man es einfach nicht!»
Aufgewachsen ist Neukom im dörflichen Winterthur Veltheim, gemeinsam mit seinen Schwestern. Die jüngere, Claudia, 27, arbeitet in Winterthur als Bauingenieurin. «Martin hat sich als Kind beklagt, wenn Mami uns Märchen erzählt hat – das stimme ja alles gar nicht!», sagt sie lachend.
«Irgendwie war ich wohl schon immer Realist», erklärt ihr Bruder Martin. Die ältere Schwester, Susanne, 36, arbeitet als Juristin im Kanton Schwyz. «Er traut sich, Dinge zu fragen», sagt sie, «deshalb glaube ich, dass Martin sich im Regierungsrat schnell zurechtfinden wird.»
Wie beurteilen das seine politischen Gegner? Für SVP-Kantonsrat Erich Bollinger ist klar: «Beim Umweltschutz will Neukomzu schnell zu viel. Er probiert es mit der Brechstange.» Aber: «Die Zusammenarbeit mit ihm ist angenehm.»
Martin Neukom weiss, dass seine Wahl durch die grüne Welle begünstigt wurde. Auch dank Zehntausenden streikenden Schweizer Schülerinnen und Schülern. «Klar hätte ich mir gewünscht, dass es eine solche Bewegung schon früher gegeben hätte», sagt er. «Aber das kann man nicht kontrollieren.»
«Martin hat immer alles infrage gestellt. Sogar die Märli, die Mami erzählt hat»
Claudia Neukom, Schwester
Denn auch mit seinem Fokus auf den Klimawandel war Neukom lange ein Aussenseiter. Spürt er jetzt, nach der Wahl, Genugtuung darüber, dass seine Zeit gekommen ist? «Genugtuung hat etwas Negatives», sagt er. «Nein, es freut mich einfach, dass man endlich über dieses überfällige Thema redet. Der Klimawandel geht ja nicht von alleine weg.»
Und noch etwas freut ihn: In den Medien sei teilweise von einem «Neukom-Effekt» die Rede im Hinblick auf die Wahlen in anderen Kantonen. «Und dass ein Effekt nach einem benannt wird, ist natürlich der Traum eines jeden Wissenschaftlers.»