Regungslos liegt Joël auf der Intensivstation. Über einen dünnen Schlauch gelangt Sauerstoff in seine Nase. Der Schlauch und der Beutel des Katheters kleben an seinem Oberschenkel.
«Was ist passiert?», fragt ihn ein alter Mann, elegant gekleidet im blauen Anzug, die Krawatte festgezurrt, das weisse Haar nach hinten gekämmt. Zärtlich umfasst er seinen Arm. «Töffunfall», sagt der Patient. «Wie alt sind Sie?» – «31 Jahre.» – «Ihr Beruf?» – «Elektriker.» – «Sie werden noch viele Jahre im Beruf arbeiten können, da gibt es Möglichkeiten», sagt der alte Mann und schaut dem Patienten in die Augen. «Das Leben findet im Kopf und im Herzen statt, nicht in den Beinen und den Armen.»
Joël, der im Berner Seeland wohnt, liegt querschnittgelähmt auf der Intensivstation in Nottwil – und lächelt. «Was er sagt, macht mir Hoffnung.»
Arzt und Pionier Guido Zäch besucht den verunglückten Elektriker Joël auf der Intensivstation in Nottwil und macht ihm Hoffnung.
Stefan Bohrer50 Jahre Einsatz für Querschnittgelähmte
Guido A. Zäch gibt sie seit einem halben Jahrhundert an Querschnittgelähmte weiter. Er ist eine Ausnahmefigur. Arzt. Unternehmer. Visionär. Vor 50 Jahren gründete er die Schweizer Paraplegiker-Stiftung, die das 1990 eröffnete Paraplegiker-Zentrum in Nottwil LU trägt. Eine weltweit einmalige Institution, die das Leben Zehntausender geprägt und lebenswerter gemacht hat.
Zäch sitzt in der Cafeteria, vor sich einen Cappuccino. Sein Blick wirkt wach, er erzählt flüssig. Noch am Telefon hatte er gesagt, er sei gesundheitlich angeschlagen. Jetzt wirkt er fit für jemanden, der im Herbst 90 Jahre alt wird, in seiner aktiven Zeit oft über 100 Stunden die Woche wirkte, selten länger als vier Stunden schlief und sieben Kinder grosszog. «Heute schlafe ich ein bisschen länger», sagt er. «Sechs Stunden.» Er habe «einen Sinn im Leben» gebraucht, das habe ihn angetrieben. «Ich musste meine depressive Verstimmung überwinden.» Besser ging es ihm immer dann, wenn er anderen helfen konnte. «Die Menschen, die wir aufrichten, stützen uns.»
Mit einem Unfall begann Zächs berufliche Bestimmung. Als 18-Jähriger sprang er in ein Becken mit wenig Wasser. Er trug Stauchungen an der Wirbelsäule davon. «Vor allem hatte ich Glück», wie er sagt. Als junger Arzt behandelte er einen Mann, der denselben Sprung wagte, glücklos war und gelähmt blieb. «Das hätte ich sein können», sagt Zäch. Damals fragte er sich: «Wie möchte ich behandelt werden?» Die Frage wurde zur Triebfeder in seinem Leben. Weil der Arzt sah, wie querschnittgelähmte Patienten in Pflegeheimen verwahrlosten, an Druckgeschwüren und Blaseninfekten litten. Viele starben viel zu früh. Als er sich für bessere Bedingungen einsetzte, bekam er von Vorgesetzten zynische Antworten: «Jetzt zahlt die Suva 1750 Franken für die Beerdigung. Lebt er, kostet das 300'000 Franken.»
Zäch war klar: So geht das nicht. «Wir haben ein komplexes Problem, also brauchen wir eine ganzheitliche Lösung», sagte er sich. Daraus entstanden Stiftung und Zentrum. Heute sind in Nottwil Chirurgie, Schmerzklinik, Rehabilitation, Forschung und soziale Integration unter einem Dach vereint.
2 Millionen Mitglieder zählt die 1975 gegründete Paraplegiker-Stiftung. Einzelpersonen zahlen 45 Franken pro Jahr, Paare und Familien 90 Franken.
250'000 Franken Soforthilfe erhalten Mitglieder der Stiftung, wenn sie nach einem Unfall querschnittgelähmt sind und dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen bleiben.
2110 Personen aus 61 Nationen haben per Ende 2024 für die Schweizer Paraplegiker-Gruppe gearbeitet. Zudem wurden 49'707 Stunden Freiwilligenarbeit geleistet.
Die Schweiz hält den Weltrekord
Die Ergebnisse sprechen für sich – und für ihn: 61 Prozent der Schweizer Patienten kehren ins Berufsleben zurück, was global ein Spitzenwert ist. In Deutschland sind es 43 Prozent, weltweit 37 Prozent.
Zäch steht auf und führt die Besucher durch das Zentrum. Ein schöner Ort am Sempachersee, wo draussen Schafe grasen, technisch auf dem neusten Stand, wo komplizierte Operationen möglich sind und versehrte Menschen die Zeit erhalten, sich an den neuen Alltag heranzutasten. In einer hellen Bibliothek forschen kluge Köpfe aus aller Welt. Viele Patienten erkennen Zäch. Begrüsst er Querschnittgelähmte, setzt er sich auf einen Stuhl oder kniet vor sie hin – weil er nicht auf sie herabblicken, sondern auf Augenhöhe mit ihnen sprechen will.
Zurück zur Cafeteria geht er durch einen langen unterirdischen Gang. «Hey, Guido», ruft ein gut trainierter Mann im Rollstuhl. «Hallo, Heinz», grüsst ihn Zäch. Zufällig ist der Rollstuhlsportler Heinz Frei (67), 15 Paralympics-Goldmedaillen, in Nottwil. Er liess sich einen Karpaltunnel an der Hand operieren. Die beiden kennen sich seit 1978, als Frei als 20-Jähriger bei einem Berglauf verunfallte. «Kein anderer Fussgänger versteht unsere Probleme so gut wie Doktor Guido A. Zäch», sagt Frei. «Er hat sich Gedanken gemacht und sie in eine Vision gepackt. Ohne ihn wären wir nicht da, wo wir heute sind.»
Zufällige Begegnung in Nottwil: Zäch (l.) trifft Rollstuhlsportler Heinz Frei. Um auf Augenhöhe zu sein, kniet sich der Arzt hin.
Stefan BohrerZäch sei «unser Vater», sagt Frei, die Beziehung der beiden symbiotisch. «Ich helfe, über den Sport Brücken zu bauen, er macht es im grossen Stil auf der ganzen Welt.» Ein Mann aus dem Wallis ist mit seinem verunfallten 16-jährigen Sohn in Nottwil und sagt: «Merci pour tout, Monsieur Zäch.» Danke für alles. Grafikerin Rosa Zaugg (68) die sich seit 50 Jahren im Rollstuhl bewegt, zeigt ein schwarz-weisses Foto mit ihr und Zäch vor vielen Jahrzehnten. Ein Mann, der Probleme mit den Schultern hat und deshalb ein paar Tage in Nottwil verbringt, erzählt, wie Zäch einmal dafür sorgte, dass er mit ein paar gelähmten Kumpel am See grillieren und Bier trinken konnte.
Seit 50 Jahren im Einsatz für Rollstuhlfahrer: Zäch und die Grafikerin Rosa Zaugg.
Stefan BohrerKein Mitleid für Rollstuhlfahrer
Für alle nimmt Zäch sich Zeit, hört zu, spricht einfühlsam – bewusst ohne Mitleid zu zeigen. Es ist ein Gefühl, das er verabscheut. «Niemand will Mitleid, Mitleid ist eine Herabsetzung», erklärt Zäch. «Ein Rollstuhlfahrer braucht keine Tränen, sondern Chancen. Er braucht Aufmunterung und Hinweise, was alles noch möglich ist.»
Offen spricht er an, worüber man selten spricht: die Liebe und die Sexualität. Beziehungen gingen nach einem Unfall eher auseinander, weil Gelähmte nicht mehr umsorgt werden wollen. Aber nur selten, weil die gehende Person sich zurückziehe. «Menschliche Zuneigung braucht nicht unbedingt Intimkontakte», ergänzt Zäch. «Ein gutes Wort, ein zärtlicher Blick, eine Berührung des Mundes kann liebend sein.» Es reiche schon, nett zueinander zu sein.
Er selbst traf oft auf Widerstand. Zuerst in der Stadt Basel, dann in Risch ZG lehnte man sein Konzept ab. Man wollte keine Rollstühle im Ortsbild. Erst Nottwil sagte: «Behinderte sind bei uns willkommen.» Vorbei sei der Kampf nicht gewesen. «Die Versicherungen sagten mir: Das funktioniert nie. Die Ärzte sagten mir: So etwas brauchen wir nicht. Und die Politik sagte: Wir haben wichtigere Probleme.» Zächs Hartnäckigkeit zahlte sich aus. Weil so viele Patienten ins Berufsleben zurückkehren, erspart das der Allgemeinheit jährlich 100 Millionen Franken an IV-Renten, so Zäch. «Darauf bin ich stolz.»
Guido A. Zäch und die Grafikerin Rosa Zaugg: 1976 werben sie für die Stiftung.
Hannes SchmidTausende Menschen hat Zäch behandelt. Einem blieb er besonders verbunden. Während eines Aufenthalts im tunesischen Dscherba erhielt er einen Anruf: Ein Mann namens Mohammed verletzte sich bei einem Unfall mit einem Pferd schwer. Im Spital diagnostizierten die lokalen Ärzte eine Hüft- und Halswirbelverletzung. Zäch stabilisierte ihn.
Als er am Abend nach ihm schauen wollte, war das Zimmer leer; man hatte ihn nach Hause geschickt. Zum Sterben. Zäch entschied sich, dem Mann zu helfen, und organisierte einen Flug in die Schweiz und seine Behandlung in Nottwil. Heute hat Mohammed drei Kinder und kann wieder gehen.
55 Jahre die gleiche Assistentin
Zäch blickt beim Mittagessen auf ein volles Leben zurück. Er war Chefarzt, Präsident der Stiftung, Chefredaktor des Magazins, Präsident des Gönnervereins, nebenbei im Nationalrat für die CVP und Oberst in der Armee mit 1250 Diensttagen.
Seit 55 Jahren arbeitet Silvia Buscher als Assistentin von Guido Zäch. Da er nicht Auto fahren kann, hat sie ihn über zwei Millionen Kilometer chauffiert.
Stefan BohrerMachte er zu viel? «Eine Woche hat 168 Stunden, nicht 40. Die meisten verschlafen den grossen Teil ihres Lebens», sagt er. «Es ging mir nie um Macht, sondern um kurze Wege.» Das sahen andere anders. Als er ging, kam eine Anklage wegen Veruntreuung. Zuletzt verurteilte ihn das Bundesgericht. Heute schwört er, nie einen Franken aus der Stiftung veruntreut, sondern im Gegenteil Hunderttausende Franken privat hineingesteckt zu haben.
Mehr will er dazu nicht sagen. Er habe wie andere ein Recht auf Vergessen. Zumal die Öffentlichkeit zu ihm gehalten habe. «Wann immer ich in den Medien an die Kasse kam, füllte sich unsere Kasse», sagt Zäch und weiss um seine polarisierende Wirkung. «Die Schweiz mag keine Ausnahmeerscheinungen. Wer sich über die Norm erhebt, dem schlägt man wie einem Champion den Kopf ab.» Sein Lebenswerk, seine Klinik, die stehe, und sie bleibe. «Ich kann jedem in die Augen schauen.»
Am Schluss des Tages steigt er in einen kleinen Citroën. Am Steuer sitzt Silvia Buscher (77) seit 55 Jahren ist sie seine Assistentin. Sie hat Zäch, der selbst nicht Auto fahren kann, schon über zwei Millionen Kilometer chauffiert. Kaum jemand kennt ihn so gut wie sie. Was macht Zäch aus? «Sagt ihm jemand Nein, findet er einen Weg, um ein Ja zu erhalten.»