Frau Perrig-Chiello, was ist Freundschaft?
Unter Freundschaft verstehen wir eine enge zwischenmenschliche Beziehung, die auf Sympathie, Freiwilligkeit, Verlässlichkeit, Vertrauen und Gegenseitigkeit beruht. Wen wir als Freund bezeichnen, unterliegt aber kulturellen Unterschieden. In den USA ist man schnell mal ein «Friend». Hier in der Schweiz würde man viele, der in den USA bezeichneten Freunde, eher als Kollegen bezeichnen.
Was unterscheidet einen Freund von einem Kollegen?
Die unterschiedliche emotionale Nähe, Verbindlichkeit und gegenseitige Selbstoffenbarung.
Wie entsteht eine Freundschaft überhaupt?
Ganz am Anfang stehen gemäss vielen Studien am häufigsten Gelegenheiten und Zufälle. Wesentlich für das Entstehen und Entwickeln von freundschaftlichen Beziehungen sind räumliche Nähe und häufiges Zusammensein. Es braucht also Zeit und Raum, sich kennenzulernen und Vertrauen zueinander zu fassen. Ferner ist es wichtig, dass neben der gegenseitigen Sympathie – die Chemie muss stimmen – sich beide Seiten öffnen können. Gegenseitige Selbstoffenbarung ist Grundvoraussetzung für eine Freundschaft.
«Extravertierte Menschen haben keine Mühe, viele Freundschaften zu schliessen und diese auch aufrechtzuerhalten»
Wie viele Freunde können wir haben?
Je nach Persönlichkeit unterschiedlich viele. So haben extravertierte Menschen keine Mühe, viele Freundschaften zu schliessen und diese auch aufrechtzuerhalten. Sie brauchen das auch. Introvertierte hingegen haben da weniger Bedürfnisse und Ansprüche. Häufig ist es aber so, dass die meisten 1-2 sehr gute Freunde oder Freundinnen haben und der Rest sind einfach Freunde.
Kann man in jedem Alter neue Freunde finden?
In jungen Jahren ist das Schliessen von Freundschaften eine eher einfache Sache. Man ist zumeist mit vielen Gleichaltrigen oder Gleichgesinnten zusammen, sei es in der Schule, im Studium, in der Müttergruppe oder im Sportverein. Freunde zu haben, ist in dieser Lebensphase zentral. Mit zunehmendem Alter wird es für viele schwieriger: kleinere Auswahl, gefestigte Vorlieben, weniger Offenheit, weniger Zeit. Und im Alter wird der Aktionskreis ohnehin kleiner und konzentriert sich zumeist auf die Familie, allenfalls auf wenige gut vertraute Personen. Die Bedeutung eines grossen Freundeskreises und des sozialen Dazugehörens verliert für viele an Bedeutung.
Zur Person
Prof. em. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Honorarprofessorin am Institut für Psychologie an der Universität Bern.
«Freunde suchen wir nach unseren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen aus»
Für manche Menschen sind Freunde wichtiger als die eigene Familie. Weshalb ist das so?
Familienangehörige kann man nicht auswählen. Familie ist Schicksal! Im positiven Fall sind sichere und vertrauensvolle familiäre Beziehungen da, die früh im Leben angelegt werden und sehr nachhaltig sind. Im gegenteiligen Fall führen sie zu Konflikten, Feindseligkeit oder Entfremdung. Und da sind Freunde allemal die bessere Option oder ein willkommener Ersatz. Freunde sind frei gewählt, nach unseren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen ausgesucht. Wahlverwandtschaften sind heute eine zunehmend beliebte Option, nicht zuletzt aufgrund der immer kleineren Familien und der beruflichen Mobilität.
Freunden wir uns öfters mit ähnlichen oder mit gegensätzlichen Menschen an?
Gemeinsame Interessen und Persönlichkeitszüge spielen nachweislich eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist die emotionale Nähe, die Vertrautheit. Zu viel Ähnlichkeit kann schnell mal als langweilig und zu konkurrenzierend empfunden werden. Zu wenig Ähnlichkeit hingegen ist nicht attraktiv, da entsprechend auch zu wenig Anknüpfungspunkte da sind.
Wann ist eine Freundschaft positiv?
Wenn möglichst viel Gegenseitigkeit da ist – sich gegenseitig anvertrauen können, im Geben und Nehmen, in der emotionalen Nähe.
Machen Freunde uns glücklicher?
Menschen brauchen ganz existenziell soziale Beziehungen – intime Partnerschaften wie auch freundschaftliche Beziehungen. Gute Freundschaften machen glücklich, weil sie uns ermöglichen, Meinungen auszutauschen, uns anzuvertrauen, bestätigt zu werden und weil sie uns das Gefühl des Dazugehörens geben. Ohne enge Beziehungen werden wir einsam – und Einsamkeit macht krank.
Wann ist eine Freundschaft ungesund?
Wenn die Kernelemente Vertrauen, Gegenseitigkeit und emotionale Nähe nicht mehr garantiert sind – z.B. durch Verrat, Geheimniskrämerei, Ausnutzen.
«Aufgrund der emotionalen Nähe beeinflussen uns Freunde bei Fragen des Lebensstils»
Freunde sind auch Beeinflusser. Inwiefern ist das gut, inwiefern schlecht?
Sich gegenseitig inspirieren, ist normal und gut. Ungut wird es jedoch, sobald die eine Person sich nur noch über die andere definiert – die eigene Identität nicht weiterentwickelt.
In welchen Belangen beeinflussen uns Freunde häufig?
Aufgrund der emotionalen Nähe sind es vor allem Fragen des Lebensstils, also etwa Kleidung, Ernährung, Wohnen und Sport. Häufig beeinflussen uns Freunde aber auch in Sachen Beruf, Partnerschaft und Familie.
Mag die Freundschaft noch so schön begonnen haben, viele Freundschaften enden dann doch nach wenigen Jahren. Was sind die häufigsten Gründe, weshalb eine Freundschaft kaputtgeht?
Verrat, Ausnutzen, zumeist ist es aber ein langsames Entfremden, so wie es häufig auch in Paarbeziehungen der Fall ist. Ein weiterer Grund ist die grosse berufliche Mobilität heute.
«Freundschaften können nicht ungestraft immer wieder gekündigt werden, sonst steht man am Ende allein da»
Mit jedem Jobwechsel kommen neue Freunde hinzu. Dadurch geraten alte Freunde manchmal in Vergessenheit, weil wir uns auf die Menschen konzentrieren, die im Jetzt eine Situation mit uns teilen. Sollten wir mehr dafür tun, um die alten Freundschaften intakt zu halten oder immer munter in neue Freundschaften investieren?
Das schnelle Ablegen von Freundschaften ist nicht nur eine Frage der Umstände, sondern auch der Persönlichkeit und der sich veränderten Präferenzen. Freundschaften kennzeichnen sich durch eine Verbindlichkeit und «Treue». Sie können daher nicht ungestraft immer wieder gekündigt werden, sonst steht man am Ende allein da.
Wie gelingt eine lebenslange Freundschaft?
Da gibt es eine lapidare, wenn auch schwierig einzulösende Maxime: Freundschaften muss man pflegen – und die Ansprüche müssen auf die jeweilige Lebensphase angepasst werden.