Hanspeter Latour (77) geht in die Hocke. «Mein tägliches Training», sagt er schmunzelnd und wirft ein wenig Trockenfutter in sein Biotop. «Achtung, sie kommen!» Blitzschnell stossen silbergrau schimmernde Fische an die Wasseroberfläche. «Das sind Moderlieschen. Eine der kleinsten einheimischen Fischarten. Die können sogar springen!» Kaum wieder aufgestanden, hat der 77-Jährige das nächste Tier im Visier. «Sehen Sie die Libelle? Das ist eine blaugrüne Mosaikjungfer. Das Männchen patrouilliert. Im Holzstrunk im Wasser befinden sich 1000 Eier, die es bewachen muss.» Auf die Frage, woran er das Männchen erkenne, sagt er freudestrahlend über das Interesse seines Gegenübers: «Am blauen Hinterteil.»
Die Begeisterung für die Natur ist beim ehemaligen Goalie und Trainer von Thun, GC und dem 1. FC Köln mindestens so gross, wie sie früher für den Fussball war. «Mit dem Naturgarten erfüllte ich mir 2009 meinen Rentnertraum», sagt Latour. Dafür hat er 60 Prozent seines 2000 Quadratmeter grossen Gartens in Eriz im Berner Oberland «der Natur zurückgegeben». Mit einem Landschaftsgärtner konzipierte der gebürtige Thuner sein grünes Reich: heimische Wildblumen und Beeren, zwei Biotope, die von der eigenen Quelle gespeist werden, Stauden, Hecken, Insektenhotels. «Manche Besucher fragen: Wo ist hier der Garten? Meine Antwort: Für die Biodiversität darf es nicht zu aufgeräumt sein.»
An mehreren Stellen stehen Holzbänke, stets zwei nebeneinander. «Einer für mich, einer für meine Frau», erklärt Latour. «Das Beobachten der Natur ist Hanspeters Passion. Ich bin gern da- bei – doch nicht zu oft, sonst weiss ich plötzlich besser Bescheid», sagt Thilde Latour (77) augenzwinkernd. Seit 52 Jahren sind die beiden verheiratet. Sie hätten selten ein «Gstürm», sagt er. Ausser Thilde ruft ausgerechnet dann «Hanspeter, essen!», wenn er eine Goldammerfamilie fotografieren will – und diese fliegt erschrocken davon. «Das ist wie ein verschossener Penalty!»
Bäume-Raten mit Thun-Spielern
Die Natur habe ihn stets fasziniert. «Schon mein Vater, ein Chemiker, kannte jeden Vogel», erzählt Latour, der eine Lehre als Laborant absolvierte. Doch neben dem Fussball habe er diese höchstens beim regenerativen Training geniessen können. «Beim Joggen habe ich die Spieler des FC Thun gern nach Baumarten befragt. Es ist ja gut, wenn sie eine Eiche von einer Birke unterscheiden können.» Latour lacht herzhaft.
In Gummistiefeln steigt er die wacklige Steintreppe vom Garten in sein knapp 500 Quadratmeter grosses Wäldchen hinab. Überall hat er Unterschlüpfe für die Tiere bereitgestellt. «Sehen Sie den Berg an Ästen? Darunter wohnt eine Rötelmaus. Schüüch wiene Cheib!», sagt Latour in seinem markigen Berndeutsch. Als Thun-Trainer avancierte er mit dem Spruch «Das isch doch e Gränni» – einer, der viel weint – zur Kultfigur. Heute gibt der energiegeladene Rentner sein Wissen in Büchern und an Vorträgen weiter.
Rund 50 hält er pro Jahr – beim Chüngeliverein, dem Bauernzmorge oder bei der Grossbank. Gebucht wird Latour oft für Motivationsreden, doch seine Bedingung ist klar: Im zweiten Teil spricht er zu seinem Herzensthema – der Biodiversität. «Heute haben alle Firmen die Nachhaltigkeit im Leitbild, da können sie gar nicht Nein sagen.» Oft sitzt Latour bis spät in die Nacht vor seinem Laptop und feilt an seinen Reden, die mit Anekdoten aus seiner Karriere gespickt und mit Fotos aus seinem Garten illustriert sind. «So viel Aufwand finde ich ja übertrieben», sagt Thilde Latour. «Ich will nicht immer das Gleiche erzählen!», antwortet er.
Nah bei den Bauern
Die beiden Kinder des Paars – der Sohn führt ein IT-Unternehmen, die Tochter ist Anwältin – leben mit ihren Familien in Zürich. «Für die Enkel habe ich ein Stück gepflegten Rasen zum Spielen frei gelassen. Man kann gut das eine tun und das andere nicht lassen.» Das ist auch Latours Devise für die Biodiversität. «Ich sehe mich als Brückenbauer.» In Eriz, wo es gefühlt mehr Kühe als Menschen gibt, ist Latour den Bauern nahe. «Wenn ein Bergbauer mir sagt, er habe Existenzsorgen, wenn er noch mehr Futterland hergeben muss, kann ich das nachvollziehen.» Für ihn sei auch klar, dass eine intensive Landwirtschaft als Beitrag für die Ernährungssicherheit nötig ist. «Wir sind heute neun Millionen Menschen, die konsumieren wollen!»
Gleichzeitig appelliert er an die Bauern, mehr mitzuhelfen – etwa indem sie Rückzugsmöglichkeiten für die Tiere erhalten. Latour, der keiner Partei angehört, bedauert, dass es überhaupt zur Abstimmung über die Biodiversität kommt. «Zweimal schmetterte der Ständerat den Gegenvorschlag ab, obwohl Bundesrat und Nationalrat einen verhandelbaren Kompromiss erarbeitet hatten.»
Nun hofft er auf einen beachtlichen Teil an Ja-Stimmen. «Ein mageres Resultat wäre für die Biodiversität verheerend.» Albert Rösti, der als Bundesrat die Vorlage bekämpft, schickte er sein Buch «365 Tage Biodiversität». «Er hat sich bedankt, wir kennen uns von früher.» Seine Bekanntheit öffnet Latour Türen. «Wenn ich Fussballfans die Natur näherbringen kann, ist das doch super.»
Mit der Fotokamera bewaffnet, geht er durch seine Wildblumenwiese. «Die Schweiz hat von allen Ländern Europas die längste rote Liste an gefährdeten Pflanzen und Tieren.» Dazu gehöre etwa das Mauswiesel, das ihm mit viel Glück in seinem Garten auch schon vor die Linse lief. «Ob mit Naturgarten oder einem Topf insektenfreundlichem Dill auf dem Balkon – alle können einen Beitrag zum Schutz der Biodiversität leisten.» Und schon geht Latour wieder in die Hocke. Er hat einen Schmetterling entdeckt. «Ein Hauchhechel-Bläuling. Wunderschön!»