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Schweizer Astronaut Claude Nicollier blickt zurück auf sein Leben 

«Ich bin 80 – und irgendwie noch immer ein Kind»

Der erste Schweizer Astronaut blickt zurück auf ein Leben voller Abenteuer zwischen Erde und Unendlichkeit. Claude Nicollier über seine ersten Modellflugzeuge, die riskanten Einsätze als Militärpilot und seine Rettungsmission im All.

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In seinem Lieblings­flugzeug: Claude Nicollier an Bord des Hawker Hunter im Militärflugzeugmuseum in Payerne VD. Als Militärpilot steuerte er während 22 Jahren selber ­einen Hunter.

In seinem Lieblingsflugzeug: Claude Nicollier an Bord des Hawker Hunter im Militärflugzeugmuseum in Payerne VD. Als Militärpilot steuerte er während 22 Jahren selber einen Hunter.

Blaise Kormann

80 Jahre Claude Nicollier! Was bedeutet dieser Geburtstag für Sie?

Claude Nicollier: Es ist der Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Ich bin bis jetzt ein Kind geblieben – irgendwie bin ich es ja immer noch (lacht).

Woher Ihre unerschütterliche Ruhe?

Dahinter verbirgt sich eine brennende Leidenschaft für Astronomie, für den Weltraum und Flugmaschinen. Die Passion hat mein Leben bestimmt. Und sie wurde auch durch Comics genährt. Ich liebte Gaston Lagaffe, träumte aber davon, wie Buck Danny zu sein. Er flog mit seinem Helm und seiner Sauerstoffmaske mit hoher Geschwindigkeit durch die Lüfte. Als Kind spielte ich in La Tour-de-Peilz zusammen mit meinem Freund Derib, dem Schöpfer der Comicfigur Yakari, Szenen mit den von uns gebauten Modellflugzeugen nach.

Als Sie Buck Danny lasen, fühlten Sie sich von einer mysteriösen teuflischen Spionin angezogen …

Lady X! (Lacht.) Sie flog einen Hunter. Ich liebte die Ästhetik der Flugzeuge – nicht die Kriegsseite. Ein Abenteuer berührte mich sehr, darin geht es um einen Piloten, der verunglückte. Später war ich selber Hunter-Pilot bei der Schweizer Luftwaffe. Damals haben wir einen Kollegen verloren. Er kehrte nicht zurück, weil der Nebel über dem Neuenburgersee zu stark war. Er achtete nicht auf die Höhe und berührte mit dem Flügel die Wasseroberfläche. Militärpilot zu sein, war stets ein Umgang mit Risiken. Eine gute Vorbereitung, bevor man Astronaut wird.

Die Nachbildung des Innenhandschuhs eines Raumanzugs, den Nicollier auf seiner Mission ­benützt hat.

Die Nachbildung des Innenhandschuhs eines Raumanzugs, den Nicollier auf seiner Mission benützt hat.

Blaise Kormann

Vom Flugzeug in den Weltraum – wie kam es dazu?

Als Neil Armstrong und Buzz Aldrin in der Nacht des 21. Juli 1969 den Mond betraten, war der Weltraum eine Sache zwischen den Sowjets und den Amerikanern. Es gab noch keinen Platz für Europäer. Ich war ein junger Astrophysiker und arbeitete als Linienpilot bei der Swissair. Die Möglichkeit, Astronaut zu werden, ergab sich mit der Europäischen Weltraumorganisation (ESA). Ich bewarb mich bei der ersten Auswahl von Astronauten und wurde 1978 angenommen. Für die Europäer war es eine Pionierzeit! Die ESA und die Nasa hatten eine Vereinbarung unterzeichnet, und ich kam nach Houston. Die Texaner sahen uns und fragten sich: «Was machen die hier?» Als Europäer mussten wir uns beweisen, das war harte Arbeit. Aber ich wurde mit vier Missionen an Bord des Space Shuttle belohnt.

Eine davon war die Reparatur des Hubble-Teleskops in den 90er-Jahren, die Sie zum Helden machte.

Es war ein grosses Privileg, zur Rettung von Hubble beitragen zu können. Das Potenzial des Teleskops war aussergewöhnlich und rechtfertigte die Anstrengungen. Hubble half uns zu verstehen, wie Galaxien, Sterne und Planetensysteme entstehen. Etwa mit der Aufnahme «Säulen der Schöpfung», die drei Säulen aus interstellarer Materie zeigt, an deren Spitze Sterne entstehen.

«Ich fühle mich ­privilegiert. Aber ich bin nicht stolz»

Claude Nicollier

Haben diese Bilder das Wissen über das Universum erweitert?

Einige der Aufnahmen haben uns die wahre Struktur des Universums gezeigt, die unvorstellbar gross ist. Das Universum ist von erstaunlichem Reichtum und mit Hunderten von Milliarden Galaxien gefüllt. Jede davon mit mehr als 200 Milliarden Sternen wie unsere Sonne.

Mit 21 Jahren wurde der Westschweizer Militärpilot. Er ist bis heute der einzige Schweizer Astronaut, der im All war.

Mit 21 Jahren wurde der Westschweizer Militärpilot. Er ist bis heute der einzige Schweizer Astronaut, der im All war.

Collection personnelle

Haben wir den Schlüssel zur Entstehung des Lebens gefunden?

Noch nicht. Es wird die grosse Herausforderung unseres Jahrhunderts sein herauszufinden, warum vor etwa drei Milliarden Jahren Leben auf der Erde und vielleicht auch auf anderen Planeten entstanden ist. Mit dem James-Webb-Weltraumteleskop können wir die chemische Zusammensetzung der Atmosphären von Exoplaneten ausserhalb des Sonnensystems bestimmen. Das könnte uns den Beweis für ausserirdisches Leben liefern.

Gibt es das denn?

Ich denke schon. Flüssiges Wasser bedeutet, dass sich Leben entwickeln kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass es in unserem Sonnensystem ausserhalb der Erde Leben gibt, ist sehr hoch. Wir werden auf dem Mars danach suchen, aber auch mit der ESA-Mission, die zu den Eismonden des Planeten Jupiter aufbricht. Ausserdem gibt es noch den Europa Explorer. Europa ist der Jupitermond, der mit Eis bedeckt ist und darunter flüssiges Wasser hat, eine Art subglazialer Ozean.

«Meine ­Familie war immer die Quelle ­grossen Glücks»

Claude Nicollier

Haben die Missionen Ihr Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit der Erde geschärft?

Absolut. Aus dem Weltraum sieht man, wie einzigartig und zerbrechlich unser Planet ist. Man will ihn unwillkürlich beschützen – wie ein krankes Familienmitglied. Ich konnte die Erde etwa 43 Tage lang aus dem Weltraum beobachten. Wir hatten jeweils nur wenig Zeit, eine bis eineinhalb Stunden am Ende des Tages. Wir arbeiteten zwölf bis vierzehn Stunden, aber die kurze Zeit, die wir mit der Beobachtung der Erde verbrachten, war magisch! Bis dann der Kommandant rief: «Leute, es ist Zeit. Wir müssen morgen arbeiten.»

Die Familie ­Nicollier um 1980: Susana, Claudes Ehefrau, und ihre beiden Töchter Maya (l.) und ­Marina.

Die Familie Nicollier um 1980: Susana, Claudes Ehefrau, und ihre beiden Töchter Maya (l.) und Marina.

Collection personnelle

Sie waren verheiratet und haben zwei Töchter. Wie war ein Familienleben als Astronaut möglich?

Meine Familie war die Quelle grossen Glücks und unermüdlicher Unterstützung. Nach unserer Hochzeit im August 1972 in Guadalajara, Mexiko, hat mich meine Frau Susana in die Schweiz begleitete, auf die Beobachtungsstation auf dem Gornergrat auf 3000 Metern Höhe. Wir hatten viele klare Nächte, aber auch Schneestürme und Stromausfälle. Das war nicht einfach für eine junge Mexikanerin, die gerade ihr Land verlassen hatte! Wir zogen viel um, nach Zürich, Noordwijk in den Niederlanden und nach Köln, wo ich die Grundausbildung zum Astronauten absolvierte. 1980 zogen wir nach Houston. Unsere Kinder, Maya und Marina, waren damals sechs und zwei Jahre alt. Wir blieben 25 Jahre lang dort. Leider haben wir 2007 meine Frau Susana verloren. Meine beiden Töchter leben mit ihren Familien in der Schweiz.

Wie hilft die Raumfahrt der Erhaltung der Erde?

Die ESA bündelt die finanziellen Mittel von 22 Ländern, darunter auch der Schweiz, um viele Sensoren, Fühler und Kameras in Betrieb zu nehmen, die unseren Planeten überwachen. Man kann die Erde nicht vom Weltraum aus retten, aber man kann eine detaillierte Überwachung durchführen, was zur Erhaltung der Umwelt beiträgt. Ich glaube, man sollte bemannte Flüge zum Mars nicht mit der Begründung machen: «Der Mars wird eines Tages eine Art Arche Noah sein.»

Claude Nicollier bei der Reparatur des Hubble-Tele­skops im Jahr 1999, im Visier seines Helms spiegelt sich die Erde.

Claude Nicollier bei der Reparatur des Hubble-Teleskops im Jahr 1999, im Visier seines Helms spiegelt sich die Erde.

Nasa

Wird das der nächste Schritt sein?

Ein bemannter Flug zum Mars könnte Mitte der 2030er-Jahre stattfinden. Die treibstoffsparende Reise würde sechs bis acht Monate dauern. Auf eine Rückreise, die ebenfalls fast acht Monate dauern wird, muss man etwa fünfzehn Monate warten. Eine faszinierende, aber auch schwierige und gefährliche Forschungsmission!

Was ist die grösste Herausforderung bei einer solchen Expedition, die 62 Millionen Kilometer weit reicht?

Man kann den Mond, auf dem die Menschen gelandet sind, als Vorort der Erde betrachten. Aber der Mars ist eine technische und menschliche Expedition von ganz anderem Ausmass. Die grösste Herausforderung wird das langfristige Leben sein, mehr als ein Jahr in einer feindlichen Umgebung, in der es extrem kalt ist – durchschnittlich minus 63 Grad. Die Atmosphäre ist sehr dünn und besteht hauptsächlich aus Kohlendioxid CO2.

Auch mit 80 Jahren bleibt er dem Weltraum treu: Nicollier unterrichtet heute einige Kurse an den Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Lausanne und Zürich.

Auch mit 80 Jahren bleibt er dem Weltraum treu: Nicollier unterrichtet heute einige Kurse an den Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Lausanne und Zürich.

Blaise Kormann

Wenn Sie zurückblicken, sind Sie stolz auf Ihre Karriere?

Ein Journalist fragte meinen Vater einmal: «Sind Sie stolz darauf, dass Ihr Sohn Astronaut geworden ist?» Er antwortete: «In unserer Familie sind wir nicht stolz. Wir sind sehr zufrieden, wenn alles gut läuft, aber das ist kein Gefühl des Stolzes.» Auch ich empfinde keinen Stolz, ich fühle mich einfach privilegiert, ein so formidables Abenteuer erlebt zu haben. Mein Vater wurde 104-jährig, ich weiss nicht, ob ich mal so alt werde. Ich mute mir immer noch viel zu, weil ich schlecht Nein sagen kann. Darum habe ich zugesagt, an der ETH Zürich einige Vorlesungen zu geben.

Von Didier Dana vor 8 Minuten