Hei, Luzia, ich finde es toll, was du machst!» Im Speisewagen im Zug von Zürich nach Basel gibts für Luzia Tschirky nicht nur einen Cappuccino, sondern auch ein Kompliment einer Mitreisenden. Tschirky (34) war jahrelang Korrespondentin des SRF und berichtete über den Krieg in der Ukraine. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Zürich. Heute Abend wird sie im Theater Fauteuil aus ihrem soeben erschienenen Buch vorlesen.
Luzia Tschirky, gut zwei Jahre sind seit Kriegsbeginn vergangen. Nun ist die Ukraine militärisch stark unter Druck. Steht das Land an einem Wendepunkt?
Ob es ein Wendepunkt ist, lässt sich zum aktuellen Zeitpunkt nicht sagen. Das weiss man immer erst im Nachhinein. Die Ukraine befindet sich auf jeden Fall in einer schwierigen Lage.
Wie zeigt sich das?
Einerseits sagt das der ukrainische Präsident. Anderseits höre ich es auch von meinen Freundinnen und Freunden in der Ukraine.
Was erzählen die?
Sie wissen, dass Russland mit seiner Offensive versucht, ein Momentum zu nutzen, weil die Waffenlieferungen aus den USA an die Ukraine stark verzögert sind. Der aktuelle Zustand ist für meine Bekannten schwer auszuhalten. Wenns darum geht, wer mehr Waffen und Soldaten hat, ist das Ungleichgewicht zurzeit sehr gross – und die Ukraine nicht obenauf.
Experten sagen, die Ukraine sei im Moment gar in der schwierigsten Lage seit Kriegsbeginn.
Das denke ich auch. Ein guter Freund von mir hat mir dasselbe geschrieben. Das von ihm zu hören, beunruhigt mich. Er ist selbst Journalist und hat die Phasen des Kriegs vor Ort miterlebt. In der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine greift die russische Armee nun Dörfer mit Bodentruppen an. Für die Bevölkerung hat das einen starken psychologischen Effekt.
Inwiefern?
In den letzten zwei Jahren haben die Menschen in diesen Grenzgebieten versucht, ein bisschen Normalität zurück in ihr Leben zu bringen. So weit das geht. Doch jetzt wird das Horrorszenario erneut Realität, und die Menschen müssen innert zweier Jahre ein zweites Mal flüchten. Im Land wirft die Entwicklung an der Front Fragen auf: Wie hätten wir verhindern können, dass wir nun wieder angegriffen werden? Wer hätte das verhindern müssen? Und wer hilft uns jetzt noch?
Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock reiste diese Woche für einen «Solidaritätsbesuch» nach Kiew. Nützt das etwas?
Die Geste mag in der Ukraine positiv wahrgenommen werden, doch viel drängender ist die Knappheit bei den Luftabwehrsystemen. Die Region um Charkiw wird massiv unter Beschuss genommen, weil die russische Armee weiss, dass die ukrainische Armee unter Waffenknappheit leidet. Konkret heisst das: Russische Raketen werden viel seltener abgeschossen, die Zerstörung und die Anzahl der Toten wird grösser.
Sollte die Schweiz mehr tun für die Ukraine?
Die Schweiz liefert keine Waffen, und darin spiegelt sich der politische Wille einer Mehrheit aller Stimm- und Wahlberechtigten. Wir leben in einer Demokratie, in der die Menschen ein Mitspracherecht haben. Das finde ich sehr wichtig.
Ist das für Sie nicht schwer aushaltbar nach dem, was Sie vor Ort gesehen haben?
Krieg ist generell schwer auszuhalten. Wenn man selbst bei Alarm im Luftschutzkeller sass, ist man natürlich froh, wenn die Rakete, die da geflogen kommt, abgefangen werden kann. Es ist leider schon vorgekommen, dass ukrainische Freunde von mir sagen: Dann trifft mich diese Rakete halt. Das macht mir Sorgen. Es zeugt von einer Fatalität, die nicht sein dürfte.
Wie reagieren Sie darauf?
Ich erkundige mich, ob die Person psychologische Betreuung bekommen kann. Es ist schwierig, über so lange Zeit mit der Bedrohung zu leben. Die allermeisten Ukrainer sind direkt vom Krieg betroffen. Sie haben Angehörige, Freunde, Bekannte oder ihr Zuhause verloren. Dann kommt ihnen der Gedanke: Irgendwann wird es mich sowieso auch treffen. Das habe ich besonders von wehrpflichtigen Männern gehört.
Aktuell gibts in der Schweiz und anderen Ländern eine Diskussion darüber, dass die Männer im wehrpflichtigen Alter den Schutzstatus verlieren sollen. Auch Präsident Selenski hat die Männer aufgefordert, nach Hause zu kommen.
Ich denke, es steht nicht zur Diskussion, dass die Schweiz diese Männer ausliefern würde. Aber in Ländern wie Polen beispielsweise ist die Gefahr, ausgeliefert zu werden, sicher grösser.
Wie ist es für die Menschen in der Ukraine, dass ein Teil ihrer Landsleute im Ausland in Sicherheit lebt?
Das ist ein ganz schwieriges Thema. Wer seine Verwandten im Krieg verloren hat, fragt sich: Warum musste mein Vater sterben und dieser andere Mann will nicht an die Front? Als Aussenstehende möchte ich nicht darüber urteilen.
Und die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer möchten nicht öffentlich darüber reden.
Warum?
Sie befürchten, es könnte von der russischen Propaganda ausgenutzt werden. Dann heisst es im russischen Fernsehen: Die Ukrainer wollen ja gar nicht für ihr Land kämpfen, die fliehen lieber. Fakt ist: Die Grösse der Armee hat Einfluss auf den Kriegsverlauf. Und in Russland leben nun mal über 140 Millionen Menschen. Das macht einen Unterschied. Ich habe den Eindruck, dass ein Menschenleben in Russland weniger zählt als in der Ukraine.
Warum meinen Sie?
Die ukrainische Maidan-Revolution 2014 wurde auch «Revolution der Würde» genannt. Den Demonstrierenden ging es um die Frage, ob der Mensch für den Staat existiert – oder der Staat für den Menschen. Die Ukraine ist da mittlerweile
an einem anderen Punkt als Russland.
Woran machen Sie das fest?
Während des Krieges habe ich gesehen, wie sich der russische Staat kaum um die Rückführung von getöteten russischen Soldaten kümmert. Diese fehlende Wertschätzung des menschlichen Lebens hat sich leider seit Sowjetzeiten in Russland nicht verändert. In der Ukraine ist der Umgang mit den eigenen Soldaten, mit den Menschen im Land insgesamt ein komplett anderer.
Ihr Mann ist deutsch-russischer Doppelbürger. Liefe er in Russland Gefahr, eingezogen zu werden?
Nein. Er zog mit 13 aus Russland nach Deutschland und wohnte bis Ende des wehrpflichtigen Alters nicht mehr dort. In Russland ist er jedoch als Journalist mit russischem Pass einem viel grösseren Risiko als ich ausgesetzt, verhaftet zu werden.
Sie haben von Ihren Erfahrungen in den Luftschutzkellern in der Ukraine erzählt. Haben Sie in Zürich auch einen Luftschutzkeller?
Weil es in unserem Wohnhaus in Zürich keinen gibt, habe ich mich darüber informiert. Ich war sehr überrascht zu erfahren, dass ich gar nicht herausfinden kann, wohin ich mit meiner Familie im Ernstfall gehen sollte. Erst wenn der Bundesrat die Gemeinden anweist, würde die Stadt Zürich die Bevölkerung informieren.
Warum stört Sie das?
In einer Extremsituation hat man erfahrungsgemäss schon genug zu tun. Idealerweise weiss man bereits, wo man hingehen muss, und sucht nicht im Stress nach dieser wichtigen Information.
Der ukrainische Katastrophenschutz konnte am ersten Tag des Angriffskrieges nicht über seine Website kommunizieren, weil Russland diverse staatliche Webseiten lahmlegte. In der Schweiz weiss man Monate im Voraus, wann das Altpapier abgeholt wird – da könnte man doch auch darüber informieren, wo der nächste Schutzraum ist.
Im Buch «Live aus der Ukraine» verarbeiten Sie Ihre Zeit als «Totenberichterstatterin» in der Ukraine. Wie war das für Sie?
Sehr belastend. Am schlimmsten finde ich nach wie vor die komplett sinnlosen zivilen Opfer. Eine Familie flieht mit dem Auto, und unterwegs werden die Mutter und die beiden Söhne, vier und neun Jahre alt, von russischen Soldaten beschossen und getötet. Ich war in Butscha dabei, als ihre Leichen exhumiert wurden. Es ist pure Sinnlosigkeit. Diese Gewalt könnte heute schon aufhören, wenn es im Kreml den politischen Willen dazu gäbe. Doch Wladimir Putin denkt nicht daran, diesen Krieg zu beenden.
Seit gut einem Jahr sind Sie Mutter. Holte Ihre Tochter Sie aus diesem Krieg heraus?
Das würde ich so nicht sagen, aber es ist sicher kein Zufall, dass ich ein Kind habe. Eine Extremsituation wie ein Krieg löst etwas in einem aus. Ich habe erlebt, wie viele Frauen in der Ukraine ihre Eizellen oder das Sperma ihrer Männer haben einfrieren lassen aus Angst, sie oder ihr Partner könnte das Ende dieses Krieges nicht erleben. Wer derart mit dem Sterben konfrontiert ist, denkt automatisch an den nächsten Schritt. Und das ist das Leben, ein Kind.
Die Friedenskonferenz
«Die Ukraine begrüsst diese Veranstaltung, sie will nicht in Vergessenheit geraten. Wie erfolgreich die Konferenz sein wird, lässt sich im Moment noch nicht sagen.»
Ihren Mann
«Pavel und ich lernten uns 2012 kennen. Ich war damals Praktikantin bei einem Radiosender in Prag, er arbeitete für ein Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung. Als er auf einen Tweet von mir antwortete, bin ich auf ihn aufmerksam geworden.»
Ihr Lieblingswort
«Ich spreche Russisch. Im Ukrainischen ist mein passiver Wortschatz grösser als mein aktiver. Wenn ich über Angriffe auf die Ukraine lese mit Toten oder Verletzten, dann fluche ich zuerst immer auf Russisch.»
Ihr Buch
«Ich habe es geschrieben, um mit dem Kapitel Russland abschliessen zu können und Distanz zu gewinnen zu den Erlebnissen während des Krieges unterwegs in der Ukraine.»