Es wird ein Danach geben, denkt sie. Aber was wird als erste Erinnerung zurückkommen? «Ich werde meinen Kindern mal erzählen, dass wir alle zu Hause bleiben mussten. Und dass alle wie verrückt Toilettenpapier kauften – warum auch immer.» Timea Bacsinszky lacht. Die 30-Jährige sitzt auf der Terrasse ihres umgebauten Bauernhauses in den Hügeln oberhalb von Lausanne und schaut über die Felder. In dieser Gegend ist das Aufregendste auch in normalen Zeiten die Hauptstrasse in die Stadt. Mal taucht ein rotes Auto auf, mal ein graues. Jetzt steht alles still, wirken die verstreuten Häuser wie eine in Öl gemalte Landidylle. «Für mich war das die grösste Entdeckung», sagt Bacsinszky, die hier mit ihrem Freund Andreas wohnt. «Wie die Welt ist, wenn es am Himmel keine Flugzeuge mehr gibt. Wie es ist, wenn hier Stille herrscht. Und ich frage mich, ob der Himmel blauer ist als sonst.»
Normalerweise wäre sie im Frühling aus Nordamerika zurückgekehrt, hätte zu Hause frische Sachen gepackt und wäre wieder davongeflogen. Nach Stuttgart, Marokko, Madrid, Rom, Paris. Wenn sie jetzt in den Himmel schaut, denkt sie nicht an Punkte und Siege. «Gestern fuhr ich durch Lausanne. Ich sah so viele Vögel wie nie. Selbst Greifvögel. In der Stadt. Es ist schön zu sehen, wie schnell sich die Natur ihren Platz zurückerobert ohne uns Menschen.» Auch die Tiere aus dem Wald kommen näher an ihr Haus als früher. Mal steht ein Fuchs auf dem Rasen, mal ein Reh.
Wie praktisch alle Profisportler ist die zweifache French-Open-Halbfinalistin und Silbermedaillen-Gewinnerin von Rio 2016 in diesen Wochen zum Warten gezwungen. Und die Tennistour gehört zu jenen Veranstaltungen, welche noch weit vom Neustart entfernt sind. «Wenn wir ein Jahr lang nicht spielen, muss ich mir etwas überlegen», sagt sie. «Ich frage mich, wie lange ich generell noch spielen werde, ob ich ein spezielles Projekt beginnen soll, vielleicht eine Ausbildung.» Sinnfragen beschäftigen sie. Wie wohl die Menschen früher in diesem Bauernhaus lebten? Mit den Tieren, dem grossen Garten. Wie viel Arbeit es hier wohl gab? War das nicht mehr wert? Und dann sagt Bacsinszky fast etwas demütig: «Ich merke gerade, dass ich in meinem Leben nicht so viel mache. Ich schlage einen Tennisball und reise um die Welt.»
Sie weiss natürlich, dass sie sich damit nicht gerecht wird. Und der Vergleich hinkt. Entertainer sind auch Arbeiter. Ihr ganzes Leben hat sie dem Sport untergeordnet. Zuerst in einer schwierigen Kindheit mit einem Vater, der ihr das Leben schwermachte. Später, als sie alt genug war, aus eigenem Antrieb. Sie hat einen hohen Preis bezahlt und Risiken auf sich genommen, damit sie jetzt in einer privilegierten Position ist. «Es wurde mir sicher nichts geschenkt.»
Und doch will sie sagen, dass es jetzt Wichtigeres gibt als ihre Siege, ihren Platz in einer Weltrangliste. «Es gibt Leute, die sterben, Familien und kleine Unternehmen, die alles verlieren. Viele, die keinen Job mehr haben. Es wäre sehr egoistisch, wenn ich jetzt auf meine Karriere fokussieren würde. Wichtig ist mir, dass es meiner Mutter und meinen Nächsten gut geht. Nicht, ob ich zwei Stunden joggen gehe.»
Wenn sie für ihre Mutter Suzanne Einkäufe macht, beobachtet sie die Leute. Wie sie nervös durch die Gänge der Supermärkte hasten, vor den Regalen auch mal aggressiv werden vor lauter Angst. Meistens steckt Timea dann ihre Kopfhörer in die Ohren und hört Musik. Die Nervosität soll sie nicht auch noch lähmen.
Das Jahr 2020 wäre für die ehemalige Nummer 9 der Tenniswelt ein Test gewesen, wie viel der Körper noch hergibt. Im Herbst 2019 sind ihre Rückenschmerzen so schlimm, dass sie die Saison abbrechen muss. Ein Ödem macht ihr zu schaffen. Erst als sie zu Beginn des Jahres eine Cortison-Behandlung macht, wird es besser. Nach zehn Tagen kann sie sich langsam wieder bewegen, wieder schlafen, die Schuhe ohne Schmerzen binden. «Danach fühlte ich mich wie im Himmel», sagt sie. Sie ist glücklich, dass sie wieder fit ist. Nur weiss sie noch nicht, wie weit sie damit kommt. Zumindest jetzt nicht. Anfang Juni wird sie 31. Sie will sich alle Optionen offenhalten. «Ich habe noch keinen genauen Plan, wann ich aufhöre. Ich spüre, dass ich sicher noch ein paar Grand Slams spielen möchte.» Nach ihrer langen Absenz ist sie bis auf Platz 291 zurückgefallen. Aber es ist klar, dass sie immer noch zu den fünfzig Besten der Welt gehört, wenn ihr Körper mitmacht.
Momentan erlebt sie, was die meisten Paare erfahren: Co-Existenz auf engem Raum. «Es ist ein neuer Rhythmus, an den wir uns gewöhnen müssen. Zuvor war ich auf Reisen, dann sahen wir uns, und schon war ich wieder weg. Jetzt sind wir ständig zusammen und können auch nicht einfach in die Ferien flüchten.» Andreas, der zuvor für die Olympischen Jugend-Winterspiele in Lausanne als Eventmanager arbeitete, sucht gerade einen Job, als das Virus die Welt lahmlegt. Jetzt muss auch er warten, bis sich ihm Türen öffnen.
Das Virus zeigt den Menschen derzeit ihre Grenzen auf. Und Bacsinszky gehört zu denen, die sich grundsätzliche Fragen stellen. Ob die Welt danach anders wird? «Ich glaube schon, dass wir nach dieser Krise anders denken. Dass sich nicht immer alles darum dreht, wie wir immer noch mehr Geld verdienen können, die Wirtschaft pushen. Vielleicht merken die Leute wieder, wie viel es ihnen gibt, im eigenen Garten herumzustochern, lokale Produkte zu kaufen. Ich überlege mir auch, wie ich meinen ökologischen Fussabdruck verändern kann.»
Sie wünscht sich eine Veränderung der Werte. «Wir realisieren, wie wir darauf konditioniert worden sind, alles zu kaufen und zu konsumieren, was uns vorgemacht wird. Hier diese Drohne, dort das neuste Handy mit drei Kameras, damit ich das allerbeste Bild meines Lebens auf Instagram stellen kann.» Sie weiss, dass der Profisport nur über die grossen Sponsoren funktioniert, dass hinter grossen Turnieren grosse Firmen stehen, welche den Konsum der Masse brauchen. «Es ist schon so, dass wir nicht ein kleineres US Open haben können. Die Infrastruktur ist auf Grösse ausgelegt. Wenn die Leute nicht mehr an die Turniere kommen, die Produkte nicht mehr kaufen, würde der Profisport, so wie wir ihn kennen, nicht mehr existieren. Dann wäre ich wie Billie Jean King, die auf den Platz rausging für nichts. Aber vielleicht täte es uns überall im Leben gut, weniger zu haben. Vielleicht wäre das auch gut genug.»
Timea schaut Richtung Himmel. Sie ist fast sicher, dass er doch ein wenig blauer ist als zuvor.