Ein hübsches Haus mit grau-blauen Fensterläden im Herzen des kleinen Dorfes Russin GE. Überall sind Blumen zu sehen, vom Balkon aus erkennt man den Kirchturm. Der königsblaue Himmel an diesem schönen Apriltag wird nur durch Flugzeuge auf dem Anflug nach Cointrin getrübt. Jean Ziegler kommt uns entgegen, gefolgt von seiner Frau, der Ethnologin Erica Deuber (82). Der ehemaligen Uniprofessorin gehört das Haus, mit ihr ist Jean Ziegler seit 1999 verheiratet.
Die Wohnräume sind hell, überall sind Familienfotos, einige Kunstwerke und Blumen zu sehen. Auf einem Tisch liegt die Brille, ein Modell, fast so markant wie der, der sie trägt. Nach einem Handy sucht man vergebens, es gibt keins. «Eine bewusste Entscheidung», erklärt der Gastgeber. «Ich will nicht, dass andere frei und ständig über meine Zeit verfügen.» Ziegler ist Soziologe, Autor und Globalisierungskritiker, er war Professor, SP-Politiker, UN-Sonderbotschafter für das Recht auf Nahrung. Die Ämter hat er abgegeben, dem Kampf für seine Überzeugungen ist er treu geblieben.
Jean Ziegler, der 19. April ist Ihr Geburtstag. Sie sind 90! Wie fühlt sich das an?
(Ungläubiges Seufzen) Ich kann es nicht glauben. Jeder Tag ist ein Wunder. Ich stehe jeden Morgen mit Blick auf den Mont Blanc auf, neben einer Frau, die absolut atemberaubend ist. Der Schweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz schrieb: «Weil alles enden muss, ist alles so schön.» Ich bin mir bewusst, dass alles vergeht, und ich fühle mich unendlich dankbar und privilegiert unter den Privilegierten. Das war ich schon immer. Ich bin in einem korrupten, aber freien Land geboren und habe das Glück, von einer liebevollen Familie umgeben zu sein und noch einen funktionierenden Körper zu haben.
Keine gesundheitlichen Probleme?
Nein, ausser einem gebrochenen Wirbel, der sich langsam erholt.
Was ist Ihr Geheimnis?
Es gibt kein Geheimnis, nur die Feststellung enormer Privilegien. Daraus ergibt sich aber eben die Notwendigkeit, für die zu kämpfen, die nichts haben. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind auf diesem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Laut den Vereinten Nationen könnte die globale Landwirtschaft zwölf Milliarden Menschen ernähren, fast doppelt so viele wie die derzeitige Weltbevölkerung. Nur: Der Zugang zu Nahrungsmitteln wird durch den Markt, also die Kaufkraft bestimmt. Das ist zutiefst ungerecht. Deshalb brauchen wir ein universelles Menschenrecht auf Nahrung, das durch das Völkerrecht garantiert wird. Dass immer noch so viele Kinder unter den Augen einer gleichgültigen Welt verhungern, bleibt der absolute Skandal dieser Zeit. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Punkt.
Hat Ihre Fähigkeit, zu rebellieren, im Laufe der Zeit abgenommen?
Nein, ganz im Gegenteil! Was zum Beispiel gerade in Gaza passiert, ist für mich unerträglich. Aber egal, wie wütend ich als Kleinbürger aus Rus-sin auch sein mag, angesichts der Realität in der Welt ist das unbedeutend.
Sind Sie vom Tod fasziniert?
Der Tod ist ständig in mir. Seit ich erwachsen bin, habe ich eine panische Angst vor dem Verrinnen der Zeit. Ich habe einmal einen Text geschrieben, der, wie ich glaube, meine Gefühle gut zusammenfasst: «Um die Angst vor dem eigenen Tod zu bekämpfen und sie zumindest teilweise zu verringern, gibt es nur ein einziges Gesetz, das ich anzuwenden versuche: jeden Tag durch Gedanken, Taten und Träume so viel Glück und Sinn wie möglich für sich selbst und andere zu erzeugen, sodass mein eigenes Leben am Ende des Weges seiner eigenen Negation Sinn entgegensetzen kann.» Meiner Meinung nach ist dies das einzig Mögliche, was man tun kann.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein, weil ich an die Auferstehung glaube. Der Tod ist die Lampe, die erlischt, wenn der Tag kommt.
Wie meinen Sie das?
Es gibt so viel Liebe in der Welt: Der Guerillakämpfer, der sein Leben für den Kampf, für Gerechtigkeit und die Befreiung seiner Familie aus dem Elend opfert. Der zu Tode gefolterte politische Gefangene, der geschwiegen hat, um seine Kameraden zu schützen. Oder ganz einfach die Liebe, die man für eine Frau, für seine Kinder, für seine Angehörigen empfindet. Diese Liebe muss irgendwoher kommen. Es scheint mir unmöglich, dass mein Leben in der reinen Verneinung endet, in einem Haufen verbrannter Knochen.
Ist der Gedanke, als Asche zu enden, unerträglich für Sie?
Nicht unerträglich, aber ich glaube aufrichtig, dass es nicht so sein wird, gerade wegen all der Liebe, die vorhanden ist. Sie übersteigt alles und hat zwangsläufig eine Quelle. Ich denke oft an den deutschen Pastor Dietrich Bonhoeffer, der 1941 von der Gestapo verhaftet wurde, weil er sich für die Juden einsetzte und sich gegen den Nazi-Horror auflehnte. Am 8. April 1945, drei Wochen vor seinem eigenen Selbstmord in Berlin, schickte Hitler ein Telegramm an das Konzentrationslager Flossenbürg und forderte die Hinrichtung des Pastors. Am Tag vor seinem Tod schrieb Bonhoeffer: «Morgen werde ich hingerichtet, aber das ist nicht das Ende meines Lebens. Ich werde erwartet.» Nun, auch ich habe dieses tiefe Gefühl: Ich weiss, dass ich erwartet werde. Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Der Mensch geht dem Tod entgegen, weil die Zellerneuerung mit zunehmendem Alter erschöpft ist. Der physische Tod ist also ein natürlicher Tod, aber für das Bewusstsein gibt es keinen natürli-chen Tod. Das Bewusstsein, also die Seele, ist kumulativ. Es strebt in die Unendlichkeit.
Haben Sie Vorkehrungen für Ihre Beerdigung getroffen? Möchten Sie beerdigt werden?
Begraben, ja, aber ich werde nicht sagen, dass ich es mir «wünsche». (Er lächelt.)
Was ist mit Gott?
Niemand hat ihn gesehen. Niemand. Und im Evangelium, das ist erstaunlich, werden mehrere Ereignisse über den auferstandenen Christus beschrieben, aber nichts über das Leben nach der Auferstehung. Für mich ist klar, dass es die Quelle aller Liebe gibt.
Was halten Sie von Kirchen?
Ich bin gegen alle kirchlichen Bürokratien. Religionen sind Machtapparate. In diesem Zusammenhang gibt es eine aussergewöhnliche Anekdote über Lenin, als er Mitglied der Genfer Lesegesellschaft war. Er kommentierte das Buch «Das Leben Jesu» von Ernest Renan. An einer Stelle schreibt Renan: «Christus ist nicht auf die Erde gekommen, um Macht und Reichtum an sich zu reissen, sondern um sie zu zerstören.» Und Lenin schrieb an den Rand: «Das ist der wahre Sozialismus.» Ich denke, das ist zutiefst wahr. Die Kirche, ihre Macht, ihr Reichtum und ihre Ungleichheit sind das Gegenteil von dem, was Christus wollte.
In der Schweiz werden Sie geliebt oder gehasst. Wie hat Sie das geprägt?
Jeder macht das Beste aus dem, was er hat. Ich hasse es, wenn Leute sagen, dass sie mich bewundern. Ich habe 16 Bücher geschrieben, die in viele Sprachen übersetzt wurden und eine gewisse Wirkung erzielt haben. Das sind meine Waffen. Nehmen Sie «Die Schweiz wäscht weisser». Dieses Buch hat mir neun Gerichtsverfahren eingebracht, die ich alle verloren habe. Und wie steht es heute um das Bankgeheimnis? Es ist geschwächt, aber nicht verschwunden, wegen der Offshore-Gesellschaften, die den Ultrareichen absolute Geheimhaltung bieten. Für mich geht der Kampf weiter. Mir kommt ein Ausspruch von Brecht in den Sinn: «Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.»
Man hat den Eindruck, dass die Nachfolger von Jean Ziegler nicht gerade zahlreich sind.
Nein, das ist völlig falsch. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang das wunderbare Sprichwort aus der senegalesischen Sprache Wolof zitieren: «Man kennt die Früchte der Bäume nicht, die man pflanzt.» Nichts ist wahrer als das. Ich frage mich nicht, ob die Samen, die ich im Laufe meines Lebens gesät habe, aufgehen werden.
Können Sie das konkreter erklären?
Die heutige Jugend erfüllt mich mit grosser Hoffnung: Es entsteht eine neue globale Zivilgesellschaft, die von einem einzigen Motor angetrieben wird, nämlich dem kategorischen Imperativ des Philosophen Immanuel Kant: «Die Unmenschlichkeit, die einem anderen zugefügt wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.» Wie durch ein Wunder gibt es eine Vielzahl von Bewegungen. Ich denke da an die Frauenbefreiungs- und Emanzipationsbewegung #MeToo, die antirassistische Bewegung, die Klimaschutzbewegung und so weiter. Es sind junge Menschen, die auf der Strasse sind. Sie haben bereits ein ausgeprägtes Wissen über die Übel des Kapitalismus sowie eine bewundernswerte Fähigkeit, Widerstand zu leisten. Diese jungen Menschen werden von keiner Partei ferngesteuert, aber sie sind von einem echten politischen Bewusstsein beseelt. Ich kann bei ihnen eine grosse kollektive Kraft erahnen.
Glauben Sie, dass Ihr Leben einen Sinn hat?
Ich habe die Gewissheit, dass mein Leben einen Sinn hat. Ich habe die Gewissheit, dass die Geschichte einen Sinn hat. Am Tag vor seiner Ermordung am 31. Juli 1914 im Café du Croissant auf dem Montmartre schrieb der Historiker und Politiker Jean Jaurès in der Zeitung «L’Humanité»: «Die Strasse ist von Leichen gesäumt, aber sie führt zur Gerechtigkeit.» Sie führt zur Humanisierung des Menschen.
Bereuen Sie im Nachhinein bestimmte Positionen, die Sie in der Vergangenheit vertreten haben, oder Persönlichkeiten, die Sie verteidigt haben?
Wo soll ich anfangen? (Er lacht.) Haben Sie sechs Stunden Zeit? Natürlich habe ich Fehler gemacht! Manchmal sogar gewaltige, indem ich zum Beispiel den libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi verteidigt habe. Zwar stand er einst für Emanzipation und fortschrittlichen Nationalismus, doch dann wurde er zum gemeinen und schrecklichen Mörder. Und Gaddafi ist nur ein Beispiel von vielen.
Sie haben im Laufe Ihres Lebens die ganze Welt bereist. Was an Ihnen ist typisch schweizerisch?
Die calvinistische Vorstellung, man müsse ständig arbeiten. Das hat mich lange Zeit fast kaputtgemacht. Erst vor Kurzem habe ich gelernt, mich auf den Balkon zu setzen und einfach die vorbeiziehenden Wolken zu beobachten, nichts zu tun und einfach zu spüren, dass ich lebe. Für mich ist das eine echte Entdeckung.
Was glauben Sie, welche Spuren hinterlassen Sie am Ende eines Lebens voller Kämpfe?
Was bleiben wird, sind vielleicht einige meiner Bücher. Das Wesentliche aber ist das Bewusstsein der Identität, das für den Menschen elementar ist. Es geht also darum, dieses Bewusstsein zu befreien, um alle Ideologien, alle unsinnigen Gedanken, die der Neoliberalismus vermittelt, zu bekämpfen – alles, was das Bewusstsein behindert und erstickt.
Hinter jedem grossen Mann, so sagt man, steht (fast) immer eine Frau. Können Sie das bestätigen?
Ich habe zwei! (Er lacht.) Ich habe in meinem Leben besonders viel Glück gehabt, weil ich immer noch eine sehr gute Beziehung zu Wédad, meiner ersten ägyptischen Frau, habe. Sie ist die Mutter meines Sohnes und ist sehr schön. Und ich habe das unendliche Glück, die wunderbare Erica an meiner Seite zu haben, die mich am Leben hält.
Bedeutet ein erfolgreiches Leben nicht einfach nur, die Liebe zu finden?
Das glaube ich tatsächlich. Charles Ferdinand Ramuz sagt: «Die Liebe ist nicht alles, aber ohne Liebe ist alles nichts.»