Der Mann in langer brauner Kutte lacht: «Ich bin der falsche, Bruder Josef kommt gleich.» Im Empfangsraum des Kapuzinerklosters Wesemlin in Luzern ist es eng. Eine Frau im langen Wintermantel und mit verschränkten Armen bittet den Pförtner, einen der Kapuziner zu fragen, ob sie beichten dürfte. Hinter ihr wartet ein Lieferant mit einem Paket unter dem Arm.
Schliesslich tritt auch Bruder Josef (80) ein. «Das ist ja wieder ein volles Haus hier», sagt er, lacht und nickt einem Mitbruder zu. Wir setzen uns in das Refektorium, das Esszimmer des Klosters. Der Raum bietet Platz für wohl 60 Menschen – viel zu gross für die 11 Kapuziner, die hier leben. Das neuste Mitglied ist Bruder Josef, der das Kapuzinerkloster Olten nach mehr als 20 Jahren verlassen musste und im Juni hier eingezogen ist.
Bruder Josef, es ist viel los für einen gewöhnlichen Donnerstagnachmittag. Sind Sie so kurz vor Weihnachten im Stress?
Bruder Josef: Es ist wahr. Ich habe selten so viele Beichten abgenommen wie hier in Luzern. Es herrscht oft ein regelrechter Ansturm. Ich bin einmal pro Woche eingeteilt, von zwei bis vier Uhr am Nachmittag. Aber letzthin war so viel los, dass ich erst um fünf Uhr aus dem Beichtzimmer kam.
Woher kommt diese Lust am Beichten?
So recht weiss ich nicht, warum es hier viel mehr Menschen sind als in Olten. Das Kloster Wesemlin ist eine offene Gemeinschaft, die den Menschen auch als spiritueller Kraftort dienen möchte. Die Tore zum Klostergarten sind immer offen. Vielleicht baut das die Hemmschwelle ab. Beichten ist aber auch eine gute Sache, wissen Sie. Im Prinzip muss man ja nichts sagen, der Herrgott weiss ja schon alles. Aber es kann helfen, wenn man es ausformuliert. Mein Ziel ist es, dass jeder Mensch, der zur Beichte kommt, mit einem etwas leichteren Rucksack weitergeht.
Ostern haben Sie noch im Kloster in Olten gefeiert. Weihnachten verbringen Sie nun in Luzern. Wie ist das für Sie?
Ungewohnt. Aber ich freue mich. An Heiligabend haben wir eine öffentliche Einstimmung in der Klosterkirche. Die eigentliche Weihnachtsfeier mit der Klostergemeinschaft ist am Weihnachtsabend. Dann werden wir ein Fondue chinoise geniessen, das mag ich sehr. Für mich ist es auch schön, dass ich seit dem Umzug wieder näher bei meinen Geschwistern bin, die ich um Weihnachten herum besuchen werde.
Haben Sie sich gut eingelebt?
Ja, das darf ich wirklich mit gutem Gewissen sagen. Aber der Umzug ist mir nicht leichtgefallen. Wir hatten zwar eine schöne Schlüsselübergabe mit der Solothurner Regierungsrätin Sandra Kolly, aber das Haus so leer zu sehen, tat mir weh. Es war alles ausgeräumt. Kein Bier mehr. Kein Glas Wein. Einfach nichts mehr. Da wusste ich: Jetzt muss ich weg.
Haben Sie Kontakt mit Ihren ehemaligen Mitbrüdern aus Olten? Wie die SI vor Ostern berichtete, lebten Sie mit einigen von Ihnen über Jahrzehnte zusammen.
Natürlich. Mit den einen mehr und den anderen weniger. Manche greifen gar nicht gern zum Telefon. Mit Bruder Crispin pflege ich noch immer ein enges Verhältnis.
Das ist Bruder Josef
Josef Bründler ist in Root bei Luzern aufgewachsen. Er studierte Theologie und war 22 Jahre alt, als er der Ordensgemeinschaft der Kapuziner beitrat. Bevor er in das Kloster Wesemlin zurückkehrte, lebte er während 23 Jahren im Kapuzinerkloster in Olten. Dieses wurde nach 348 Jahren geschlossen.
Bruder Josef nimmt sein Handy in die Hand und zeigt ein Video von Bruder Crispin, der als Gast im Restaurant Rebstock in Luzern sitzt und wild gestikulierend mit dem Wirt des Oltner «Rathskellers» spricht. «Kaum zu glauben, dass er 90 Jahre alt ist.» Pater Josef blickt auf den Screen und lacht. «Ihn vermisse ich schon sehr.»
Dann deutet er in Richtung Tür. Draussen auf dem Friedhof liegen zwei seiner Mitbrüder aus Olten begraben. Die Brüder Werner und Raymund Gallati sind im November innerhalb von einer Woche gestorben, beide waren krank. «Es war also eine Erlösung für sie.»
Das tut mir leid. Das muss schwer für Sie sein.
Ja, das ist schon nicht einfach. Da haben Sie recht. Aber als Kapuziner bin ich mir Abschiede gewohnt. Das ist Teil unseres Glaubens.
Das vergangene Jahr war ein bewegtes. Kriege wie in der Ukraine oder im Nahen Osten beherrschten die Schlagzeilen. Was macht das mit Ihnen?
Vielfach erlebe ich ein Unvermögen, zu verstehen, warum das passiert. Warum Menschen so böse und ungerecht sein können.
Wo finden Sie Hoffnung und Halt?
Natürlich in meinem Glauben. Ich versuche eine Art Trotzreaktion einzuüben.
Wie meinen Sie das?
Trotz allem Unfrieden, den es auf unserer Welt gibt, glaube ich an einen Frieden. Also an das, was wir an Weihnachten verkünden: Frieden auf Erden. Diese Trotzhaltung ist begründet im Zentrum des christlichen Glaubens. Trotz allem Tod, der uns immer wieder umtreibt, glaube ich an ein Leben, das die stärkeren Trümpfe hat als der Tod.
Was beten Sie jeden Abend?
Ich mag es, am Abend den Tag noch einmal durchzugehen. Für das Schöne und Bereichernde, das mir geschenkt wurde, sage ich Gott ein herzliches Danke. Hie und da reicht ein «Vergelts Gott». Das genügt, wenn es von Herzen kommt. Was offen bleibt, lege ich in Gottes Hand. Dann schlafe ich normalerweise gut.
2023 sind in der Schweiz doppelt so viele Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten wie 2022. Die Missbrauchsfälle sowie die Aussagen des Papstes zu Abtreibungen finden viele fragwürdig. Können Sie diese Menschen verstehen?
Ja, natürlich. Ich bin auch der Meinung, dass eine Modernisierung passieren muss. Das ist ein alter christlicher Grundsatz: «Ecclesia semper reformanda est» heisst übersetzt: «Die Kirche muss beständig reformiert werden.»
Wo sehen Sie den dringendsten Reformprozess?
Es ist an der Zeit, dass Frauen zu allen kirchlichen Ämtern zugelassen werden.
Es scheint ganz oben aber wenig Wille für Veränderung da zu sein.
Trotz der Langsamkeit und Schwerfälligkeit der römisch-katholischen Kirche glaube ich, dass die Kirche immer noch ein Instrument ist, ein Sprachrohr von einem liebenden Gott in dieser Welt.
Was sagen Sie den Menschen, welche die Kirche verlassen wollen?
Bleibt doch! Lasst uns nicht allein, das wäre schade, wenn Sie gingen.
Ihr persönlicher Vorsatz für 2025?
Ich selbst habe mir vorgenommen, mich mehr über Kleinigkeiten zu freuen und gelassener umzugehen mit dem, was quer liegt auf meinem Weg.
Sie sind 80 Jahre alt. Denken Sie manchmal auch, dass es gut ist, dass Sie nicht mehr alle Krisen miterleben werden?
Ich denke, mit 80 darf ich einiges gelassener auf mich zukommen lassen. Ich habe kürzlich wegen etwas ganz anderem darüber nachgedacht: Der Durchgangsbahnhof Luzern soll um 2040 herum eröffnet werden. Als ich das las, wusste ich, dass ich dies – dann fast als Hundertjähriger – wohl nicht mehr miterleben werde.
Ihr Alter kann Sie auch vor weiteren schlimmen Kriegen bewahren.
Ich trage schon auch Verantwortung für das, was nach mir kommt. Diese Verantwortung möchte ich wahrnehmen, indem ich eine gute Botschaft an die Menschen weitergebe.
Wie lautet denn diese Botschaft?
Wir sind alle von Gott geliebt. Das ist mein Glaube, von dem ich mich nicht abbringen lasse.