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Pascale Baeriswyl über ihre Zeit bei der Uno

«Ich musste mir drei Elefantenhäute überziehen»

Zwei Jahre lang vertrat sie die Schweiz im Uno-Sicherheitsrat in New York. Im Exklusivinterview zieht Pascale Baeriswyl Bilanz. Die Baslerin verrät, wie viel Swissness in der Uno steckt und was zwei Gläser Whisky in der Diplomatie bewirken können.

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«Meine neuste ­Leidenschaft ist, vor der Küste Brooklyns Wale  zu beobachten»: Pascale Baeriswyl liebt ihr New York.

«Meine neuste Leidenschaft ist, vor der Küste Brooklyns Wale zu beobachten»: Pascale Baeriswyl liebt ihr New York.

Peter Lueders

Roosevelt Island! Die Antwort von Spitzendiplomatin Pascale Baeriswyl (56) auf die Frage nach ihrem Lieblingsort in New York kommt prompt. Auf der Insel mit spektakulärem Blick auf Manhattan hat sie während eines früheren Einsatzes für die Schweiz bei der Uno mit ihrer Familie gewohnt. Sie verbinde mit dem Ort viele Erinnerungen an die Zeit, als ihre zwei Kinder Teenager waren, sagt die Schweizer Botschafterin. «Die Insel ist magisch.» Hier kann sie neue Energie tanken und sich vom rauen Wind erholen, der im Uno-Sicherheitsrat bläst.

Frau Botschafterin Baeriswyl, zwei Jahre vertraten Sie die Schweiz im höchsten Uno-Gremium. Woran werden Sie sich auch in zehn Jahren noch erinnern?

An die Kombination aus Weltgeschichte und Personen im Alltag. Beeindruckt hat mich etwa der sierra-leonische Aussenminister. Er hat uns erzählt, wie er in den 1990er-Jahren im Bürgerkrieg als Kindersoldat rekrutiert und dank dem Roten Kreuz gerettet wurde. Bleiben wird mir auch eine Episode aus dem Jahr 2023.

Erzählen Sie!

Die Schweiz verhandelte damals mit dem inzwischen gestürzten Regime in Syrien über den Zugang für humanitäre Hilfe. Wir waren mit Brasilien in der Federführung. Die Gespräche verliefen sehr harzig, weshalb wir den damaligen syrischen Botschafter in die Schweizer Residenz einluden. Er brachte unzählige Gründe vor, weshalb die Grenzübergänge für die humanitäre Hilfe nicht geöffnet bleiben könnten. Nach vielen Stunden der Verhandlung und zwei Whiskys fragte ihn der brasilianische Botschafter fassungslos: Glaubst du wirklich, was du da erzählst? Danach war das Eis gebrochen.

Es ist Aufgabe des Sicherheitsrats, über den Weltfrieden zu wachen. Ist die Welt heute friedlicher als beim Beitritt der Schweiz 2023?

Leider nein, die Welt ist gefährlich geworden. Wir befinden uns in einer Phase, die in der Spieltheorie so beschrieben wird: Zwei Autos rasen aufeinander zu. Keiner weicht aus, weil alle wissen, dass der verliert, der als Erster ausweicht. Wenn aber niemand ausweicht, verlieren alle. Momentan scheinen alle aufs Gas zu drücken.

Warum hat sich die Teilnahme trotzdem gelohnt?

Ich antworte gern zuerst mit einem Zitat des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy: «Frage nicht immer, was dein Land für dich tun kann, sondern überlege lieber, was du für dein Land tun kannst.» In Analogie würde ich sagen: Frage nicht nur, was es der Schweiz nützt, im Sicherheitsrat zu sein, sondern auch, wie die Schweiz der Welt dienen kann. Das ist übrigens auch unser Verfassungsauftrag.

Was hat denn die Schweiz dem Sicherheitsrat gebracht?

Sie hat sich systematisch für das Völkerrecht, für die Zivilbevölkerung, die Klimasicherheit, einen nachhaltigen Frieden und einen effizienteren Rat eingesetzt. Dies im Interesse der Welt, aber auch im ureigenen Interesse der Schweiz.

Also gab es für uns doch einen Nutzen?

Ja, klar. Erstens verschaffte uns die Teilnahme privilegierte Kontakte zu den Weltmächten und quasi in Echtzeit Zugang zu Informationen zum Weltgeschehen. Zweitens ist es für ein kleines Land existenzieller als für eine Grossmacht, dass die Völkerrechtsordnung respektiert wird.

Das müssen Sie erklären.

Eine Weltmacht kann ihre Interessen notfalls militärisch durchsetzen. Die Schweiz ist hingegen, was ihre Sicherheit oder die Wirtschaft anbelangt, auf ein funktionierendes internationales Regelwerk angewiesen.

«Ein magischer Ort»: Mit Roosevelt Island ­mitten im East River ­verbindet die 56-Jährige viele persönliche ­Erinnerungen.

«Ein magischer Ort»: Mit Roosevelt Island mitten im East River verbindet die 56-Jährige viele persönliche Erinnerungen.

Peter Lueders

Was hat die Schweiz konkret erreicht?

Es gibt kaum eine der knapp 100 Resolutionen, die der Rat in den letzten zwei Jahren verabschiedet hat, in der nicht etwas Swissness steckt.

Picken Sie eine heraus.

Die Schweiz konnte im letzten Mai eine eigene Resolution zum Schutz des humanitären Personals durch den Rat verabschieden lassen. Das ist wichtig, denn 2024 war das tödlichste Jahr für die humanitären Helfer und das Uno-Personal. Im November hatten wir 116 Staaten – also auch unzählige Nichtmitglieder –, die sich dazu verpflichteten, diese Resolution mitzutragen. Darauf bin ich stolz.

Gab es auch Misserfolge?

Was ist ein Erfolg, was ein Misserfolg?

Sagen Sie es uns.

Eine Resolution zu verabschieden, ist nur der erste Schritt. Sie muss auch umgesetzt werden. So konnten wir im März 2024 nach vielen Vetos eine Waffenstillstandsresolution zu Gaza verabschieden. Das war ein schöner Erfolg. Aber die Resolution wurde damals nicht umgesetzt. Zum Glück gibt es mittlerweile einen Waffenstillstand. Das zeigt: Erfolg und Misserfolg liegen nah beieinander. Nur wenn beide Ebenen zusammenspielen, die abstrakte im Rat und die operationelle vor Ort, macht es für die Menschen einen grossen Unterschied.

Einblick in die Mechanik der Mitglieder: Die Zeit im Rat lehrte die Schweiz, im Zusammenspiel der Weltmächte zu bestehen.

Einblick in die Mechanik der Mitglieder: Die Zeit im Rat lehrte die Schweiz, im Zusammenspiel der Weltmächte zu bestehen.

Peter Lueders

Was lehrt es einen, am Tisch der Grossen zu sitzen?

Man erhält einen tiefen Einblick in die Mechanik jedes einzelnen Ratsmitglieds und lernt, wie man im Zusammenspiel der Weltmächte bestehen kann. Das war am Anfang hart. Die Schweiz war diesen rauen Wind nicht gewohnt. Ich musste mir etwa drei dicke Elefantenhäute überziehen.

Vor zwei Jahren hat eine Psychologin Sie und Ihre 25 Mitarbeitenden auf die arbeitsintensive Zeit vorbereitet. Sind Sie zufrieden mit der Work-Life-Balance?

Wir haben sehr viel gearbeitet und waren am Ende erschöpft. Zwei Jahre lang haben wir uns mit Kriegen und Kriegsverbrechen beschäftigt. Das setzt zu. Aber die intensive Vorbereitung hat sich für das Team gelohnt. Niemand wurde wegen der Arbeit krank, wir hielten zusammen, und alle konnten von dieser intensiven Erfahrung profitieren. Aber klar, wirklich ruhig war es nie.

Wie würden Sie den Zustand unseres Planeten in drei Worten umschreiben?

Chaotisch, gefährlich, aber auch widerstandskräftig.

Weshalb ist die Welt derart aus den Fugen geraten?

Wir erleben gleichzeitig eine Vertrauens-, eine Wahrheits- und eine Rechenschaftskrise. Wenn man das Völkerrecht ohne Konsequenzen verletzen kann, ist die Motivation, es zu respektieren, geringer.

Sprechen Sie Russland an, das völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen hat?

Ich spreche alle Staaten an. Es kriselt an vielen Orten. Die Menschen in Konfliktgebieten ringen ums Überleben und können sich nicht mehr auf die banalsten Regeln des Kriegsvölkerrechts verlassen. Und in vielen Gesellschaften vertraut man den Regierungen nicht mehr und wählt – wenn man überhaupt wählen darf – extreme Parteien.

Zwei Schweizerinnen an der Macht: Uno-Botschafterin Pascale Baeriswyl mit Claudia Banz, Direktorin der Abteilung für Angelegenheiten des Sicherheitsrats.

Zwei Schweizerinnen an der Macht: Uno-Botschafterin Pascale Baeriswyl mit Claudia Banz, Direktorin der Abteilung für Angelegenheiten des Sicherheitsrats.

Peter Lueders

Was gibt Ihnen Hoffnung?

Die vielen jungen Menschen, die sich engagieren. Und dass es nur wenig bräuchte, um den Trend zu kehren: Die internationale Ordnung braucht zwar Reformen, aber sie ist nach wie vor stark. Die meisten Völkerrechtsregeln werden immer noch respektiert.

Ein Problem des Sicherheitsrats ist das Vetorecht der ständigen Mitglieder: Das Gremium ist beschlussunfähig, wenn eine Vetomacht in einen Konflikt involviert ist. Braucht die Welt diesen machtlosen Rat?

Auf jeden Fall. Der Sicherheitsrat ist der einzige Ort, an dem die Weltmächte momentan noch jeden Tag miteinander reden. Die Geschichte lehrt uns, dass jeweils ein Moment kommt, in dem man wieder nach Einigung strebt. Deshalb ist es wichtig, dass alle am Tisch bleiben. Ausserdem überblickt der Sicherheitsrat elf grosse Friedensoperationen und hat 70 000 Menschen im Einsatz. Die Uno und der Rat retten jeden Tag Leben. Man sollte das nicht unterschätzen!

Es ist trotzdem viel zu wenig gegenüber dem, was er tun könnte.

Stimmt. Und dafür gibt es keine Entschuldigung. Aber klar ist auch: Der Sicherheitsrat ist lediglich das Abbild der Weltlage. Wer ihn abschaffen will, weil die Weltlage schlecht ist, der sieht sprichwörtlich den Puck auf dem Spielfeld nicht.

Sie leben seit 2020 erneut in New York. Was fasziniert Sie an der Stadt?

Der Alltag im Quartier, die Kultur und die Natur.

Die Natur?

Genau. Meine neuste Leidenschaft ist, vor der Küste Brooklyns Wale zu beobachten. Jetzt im Winter sind sie nicht hier. Dann macht es mich glücklich, im Central Park Vögel zu füttern.

Pascale Baeriswyl fühlt sich in New York wohl.

Pascale Baeriswyl fühlt sich in New York wohl.

Peter Lueders

Viel Zeit zum Beobachten der Tiere blieb Ihnen kaum. Und wohl auch nicht für Ihre zweite Leidenschaft, das Saxofonspiel.

Nein. Aber meine Blue Hour am Sonntagnachmittag, die habe ich immer einzuhalten versucht.

Ihre Blue Hour?

Das bedeutet von der Tageszeit her Vorabend. Und Blues symbolisiert im Jazz Melancholie, Blue Notes sind Zwischentöne. Alles zusammen heisst das, dass ich jeweils sonntags während der Dämmerung mit anderen Musikern Jazz spiele und improvisiere. Blue Hour eben.

Sie sind in Basel in einem Migrantenquartier aufgewachsen und waren die Einzige in Ihrem Umfeld, die eine höhere Ausbildung genossen hat. Wie sehr prägt Sie Ihre Herkunft noch heute?

Ich bin dankbar dafür, dass wir in der Schweiz ein Bildungssystem haben, das allen gute Ausbildungschancen bietet. In den USA ist das weniger der Fall. Die Schweiz hat mir viel ermöglicht, dessen bin ich mir bewusst. Wahrscheinlich habe ich deshalb das Bedürfnis, meinem Land etwas zurückzugeben.

Pascale Baeriswyl

Die Baslerin war Richterin, bevor sie 2000 in den diplomatischen Dienst eintrat. 2016 wurde sie als erste Frau Staatssekretärin des Aussendepartements. 2020 kehrte sie zum zweiten Mal für die Schweiz zur Uno nach New York zurück. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Von Andrea Kučera vor 2 Minuten