Tatjana Haenni, 53, hat ihr Leben dem Fussball verschrieben. Und das bereits in einer Zeit, in der die Sportart für Mädchen noch verpönt war: «Ich spielte draussen, zu Hause, im Kindergarten in jeder Pause.» Später kickte die Bernerin in Frauenteams in Zürich und Bern sowie im Schweizer Nationalteam. Nach dem Rücktritt führt sie ihre Pionierarbeit weiter. Heute als erste Frau in der Geschäftsleitung des Schweizerischen Fussballverbandes. Wenn es um ihr Lieblingsthema geht, sprudelt es nur so aus ihr heraus.
Tatjana Haenni, wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie in einer Männerdomäne spielen?
Früh. Im Kindergarten war ich das einzige Mädchen, das mit den Buben tschuttete. Und in unserem Quartier spielten abends oft Plauschteams, alles ältere Herren. Ich spielte trotzdem mit.
Die Reaktionen der Männer?
Super! Sie fanden das cool und herzig. Ich hatte null Probleme – weil ich talentiert war. In der Schule wollten die Buben mit mir kicken, zu Hause die Jungs in der Nachbarschaft. Ich fühlte mich immer zugehörig.
Wie hat Ihr persönliches Umfeld reagiert?
Ich hörte oft: Das bringt doch nichts, willst du nicht was anderes machen? Meine Mutter sorgte sich um meine Zukunft. Weil ich im Fussball in einem lesbischen Umfeld tätig war. Sie hatte Angst, dass ich ausgeschlossen würde oder Mühe hätte, einen Job zu finden. Doch im Gegenteil: Ich fand auch durch den Fussball den Platz im Leben. Ich konnte meine Homosexualität ausleben, ohne ausgegrenzt zu werden. Es wurde zu einer Stärke von mir, zu mir zu stehen, mich nicht zu verbiegen.
Haben Sie auch deshalb gleich Ihr ganzes Leben dem Frauenfussball gewidmet?
Meine Leidenschaft war und ist Fussball. Ich setze mich für den Frauenfussball ein, weil er unglaublich viel Potenzial hat. Ich möchte dazu beitragen, dass die strukturelle Diskriminierung von Frauen im Sport verschwindet.
Wo stehen wir heute – 50 Jahre nach der Ligagründung – im Frauenfussball in der Schweiz?
Es gibt Verbesserungen auf allen Ebenen. Und doch sind die Bedingungen noch bei Weitem nicht ideal, nicht fair, nicht fördernd.
Fangen wir mit dem Positiven an!
Zum Jubiläum können wir in der Liga zwei Meilensteine feiern: Die AXA Women’s Super League hat erstmals einen Hauptsponsor, und Spiele werden live im Schweizer Fernsehen gezeigt. Das macht mir grosse Freude! Auch fürs Nationalteam gab es Verbesserungen: Nach Kroatien ist die Equipe mit dem Charter geflogen – eine Premiere. Und die Länderspiele werden in grösseren Stadien ausgetragen – wie das Spitzenspiel gegen Belgien am Dienstag in Thun. Zudem können fast alle Nationalteam-Spielerinnen als Vollprofis leben.
Und jetzt das grosse Aber?
Was mich extrem stört: Es werden immer noch Fehler von früher wiederholt. Der Frauenfussball hat aus geschichtlicher und kultureller Sicht viel aufzuholen. Doch er wird von vielen Entscheidungsträgern weiter kleingeredet. «Die können nichts, das interessiert niemanden, das kostet nur.» Egal bei welcher Idee, oft höre ich: «Das geht nicht.» Es fehlt der Mut. Dabei haben wir alle Ingredienzen, um ein gutes Menü zu kochen.
Welche sind das?
Viele Mädchen interessieren sich – aktiv und passiv – für Fussball, die Mitglieder- und TV-Zahlen steigen. Das sportliche Niveau wird besser. Und es geht auch um Geschichten, Emotionen, Vorbilder. All das können wir bieten. Ich bin überzeugt, dass die Leute eine wie Lara Dickenmann eine interessante Persönlichkeit finden, Lia Wälti eine herausragende Spielerin, Malin Gut ein grosses Talent, Ramona Bachmann und Alisha Lehmann ein transparentes Paar. Wenn wir gerade bei ihr sind: Wer kann sagen, niemand interessiere sich für Fussballerinnen, wenn Alisha über eine Million Follower auf Instagram hat?
"Ich möchte dazu beitragen, dass die strukturelle Diskriminierung von Frauen im Sport verschwindet."
Stossen Sie auch heute in Ihrer Funktion beim Fussballverband noch auf viel Skepsis?
Es ist viel besser geworden. Begründete Anträge werden nun wohlwollend geprüft.
Wie sieht es bei den Spielern aus?
Sie sind nicht das Problem. Gespräche mit Spielerinnen bestätigen mir das. Granit Xhaka und Lia Wälti etwa, beide bei Arsenal, tauschen sich aus und verstehen sich. Das Gleiche weiss ich von Barcelona-Spielerin Ana-Maria Crnogorcevic. Sie plaudert locker mit den Spielern und wird von ihnen respektiert. Das Problem liegt bei Entscheidungsträgern und sportpolitischen Gremien.
Wofür kämpfen Sie sonst noch?
Mir geht es nicht darum, dass die Frauen gleich viel verdienen wie die Männer. Denn Frauen- und Männer-Profifussball sind wirtschaftlich gesehen so unterschiedlich. Ich setze mich dafür ein, dass alle Schweizer Profi-Fussballklubs eine Frauenabteilung haben. Und dass dem Frauenfussball ein grösseres Marketingbudget zur Verfügung steht. Ohne Investitionen ist es schwer, einen Mehrwert zu erwirtschaften. Das generiert mehr Nachwuchs und das wiederum ein besseres Niveau. Erfolg bringt mehr Medienaufmerksamkeit und dadurch mehr Sponsoren. Auch die Vereinbarkeit mit Ausbildung oder Job ist ein wichtiges Thema. Wir möchten mit Firmen und Schulen bessere duale Möglichkeiten schaffen. Stellen Sie sich vor, die Spielerinnen könnten so trainieren und sich erholen wie die Männer – da würde sich ihre Leistung stark entwickeln. Dann wäre die Schweiz vielleicht plötzlich nicht mehr weit weg von einem EM-Final. Und ich bin überzeugt: Dann würde die ganze Schweiz zuschauen!
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass jedes Mädchen und die Eltern wissen: Fussball spielen ist okay und toll. Ich will, dass die Leute mit einem Wälti-Trikot herumlaufen wie mit einem Xhaka-Leibchen. Die Rolle der Frau hat sich stark verändert: von der Hausfrau zur Karrierefrau. Erst das Stimmrecht, dann Frauen als CEOs oder Staatspräsidentinnen. Ich bin überzeugt, dass der Frauenfussball auf allen Ebenen die Möglichkeiten des Männerfussballs erreicht.
"Ich kenne Tatjana Haenni als entschlossene Person mit viel Tatendrang. Sie ist eine Frau, die alles, was sie anfängt, auch durchzieht und zu Ende bringt."
Fabienne Humm, Nationalspielerin