Frau Bundesrätin, im Juli 2020 waren Sie als Bundespräsidentin zu Besuch in der Ukraine. Welche Momente bleiben im Gedächtnis?
Simonetta Sommaruga: Es war mir ein Herzensanliegen, 2020 in die Ukraine zu reisen. Mit der Reise wollte ich ein Zeichen setzen. Als erste Präsidentin besuchte ich das umkämpfte Gebiet im Osten. Ich wollte darauf aufmerksam machen, dass in Europa ein vergessener gefährlicher Konflikt schwelt. Ich erlebte ein junges Land mit hoffnungsfrohen Menschen, aber auch ein Land mit einer schmerzhaften Geschichte: Es wurde in den 1930er-Jahren von Stalin ausgehungert, und 2014 durchlitt es die Maidan-Revolution. Aber Kiew war auch eine Stadt wie hier, wo Menschen spazieren gingen, das Leben genossen. Zu sehen, wie dort nun Kinder, Frauen und Männer bombardiert werden, macht mich tief betroffen.
Europa wirkt verblüfft über den Krieg auf eigenem Boden.
Wir haben die Bedrohung ohne Zweifel nicht genügend ernst genommen.
Wen meinen Sie mit «wir»?
Nach den Vorkommnissen von 2014 haben wir gedacht, das wars, das Schlimmste ist vorbei. Heute denke ich an die jungen Ingenieure, die ich getroffen habe, die Musikerinnen, die Schriftsteller. Die Leute, die für die Menschenrechte einstehen und mutig gegen Korruption kämpfen. Die Frauen, die Kinder, die nun vor Bomben Schutz suchen – in einer U-Bahn-Station! – oder alles zurücklassen und aus dem Land fliehen müssen. Das macht mich tief betroffen.
Auch hier mobilisiert der Krieg massiv. Weil er in Europa passiert?
Niemand konnte sich eine solche Situation vorstellen. Deswegen musste und muss man Russland, das das Völkerrecht verletzt und der Zivilbevölkerung unglaubliches Leid zufügt, in schärfster Weise verurteilen. Dass die Schweiz das mit Worten verurteilt, ist sehr gut, aber es mussten Taten folgen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Schweiz die EU-Sanktionen übernimmt. Ich bin froh, dass der Bundesrat diese Entscheidung nun so gefällt hat.
Sie begaben sich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski auch in die umkämpfte Zone im Donbass. Erzählen Sie.
Der Präsident wollte mir eine Brücke zeigen, die er bauen liess, um den Bewohnern beider Seiten den Kontakt zu ermöglichen. Die Brücke war für Selenski ein Symbol für die Zusammengehörigkeit der Menschen in seinem Land. Dafür hat er sich vehement eingesetzt. Die ukrainischen Sicherheitsleute haben uns davor gewarnt, uns der Brücke zu nähern, weil es dort Schützen gab, die uns als Zielscheibe benützen könnten. Da sagte der Präsident: «This is my country!», und ich habe geantwortet: «Ich komme mit Ihnen.» Ich trug eine schwere kugelsichere Weste und spürte sinnbildlich, welche Last dieser Präsident zu tragen hatte.
Welchen Eindruck hinterliess der Präsident sonst bei Ihnen?
Er war zu der Zeit noch nicht lange im Amt. Aber er war sich der Tragweite seiner Aufgabe sehr bewusst. Er wollte alles tun für den Zusammenhalt in seinem Land. Dass er für sein Land da ist, das zeigt er auch in diesen Tagen. Präsident Selenski kennt sowohl sein eigenes Land sehr gut als auch den grossen Nachbarn. Er stammt ja aus einer russischsprachigen Familie aus dem Südosten des Landes. Aufgrund der schwierigen Lage der Ukraine war Präsident Selenski schon 2020 sehr angespannt. Es ist kaum vorstellbar, unter welchem Druck er heute steht.