Kurz bevor die 74. Uno-Vollversammlung in New York morgens um 9 Uhr startet, gibt es einen «Freeze». So nennen die Amerikaner den Verkehrsstopp rund um das Hauptquartier der Vereinten Nationen. Der Grund: US-Präsident Donald Trump, 73, wird in seiner Limousine durch die Stadt chauffiert. Völlig unbeeindruckt davon spaziert der Schweizer Bundesrat Ignazio Cassis, 58, ohne Bodyguard von seinem Hotel in Midtown Richtung Uno. «Letztes Jahr sassen wir so lange im Auto, dass ich sagte: Dieses Mal gehen wir zu Fuss!»
Für den Aussenminister ist es die zweite Uno-Generalversammlung in seiner Karriere. Nervös sei er nicht, sagt Cassis vor dem Eingang zum Uno-Gebäude, wo die Fahnen der 193 Mitgliednationen im warmen Herbstwind flattern. «Als Arzt habe ich schon als 30-Jähriger an internationalen Kongressen teilgenommen.»
Der grösste Unterschied sei das Polizei- und Presseaufgebot. 5000 Polizisten sorgen für die Sicherheit der 20 000 Delegierten, 3000 Medienleute berichten über den Anlass. Das beherrschende Thema bei den Kamerateams aus Südkorea, Mexiko und den USA: Trump. Sein Fast-Zusammentreffen mit Greta Thunberg, 16, am Vortag, seine bevorstehende Rede vor der Weltgemeinschaft. Im Gegensatz zu Trump arbeitet Cassis nicht im prunkvollen Plenarsaal mit grünem Marmor hinter dem Rednerpult.
Der Aussenminister macht Politik im Untergeschoss. In den endlosen Gängen, dort, wo Neonlichter flackern und Rohrleitungen an den Decken hängen, hastet er zu seinen bilateralen Treffen. Deren sechs sind es an diesem Tag – sie dauern zwischen 20 und 30 Minuten. Hinzu kommt eine Rede an der Konferenz zu Syrien und eine Ansprache am vom World Economic Forum organisierten Gipfel zur Nachhaltigkeit. «Wichtig ist, die Konzentration nicht zu verlieren», sagt Cassis. In seinem blauen Mäppchen hat er die wichtigsten Infos beisammen.
Vor jedem Treffen gehe er kurz in sich: Was wollen wir? Wie viel steht auf dem Spiel? «Ich darf mich nicht in diplomatischen Floskeln verlieren – kann aber auch nicht mit der Tür ins Haus fallen.» Deshalb fahre er am Anfang des Gesprächs mit Small Talk die Antenne aus. «So spüre ich, ob die Stimmung freundlich, angespannt oder gar aggressiv ist.»
Dieses Aufwärmen daure rund fünf Minuten. Danach würdigt man das andere Land, spreche über gemeinsame Allianzen – erst dann folgen multilaterale Themen wie die Flüchtlingsproblematik. «Ich darf etwa bei Eritrea nicht sofort ein Rückübernahmeabkommen auf den Tisch bringen, sonst könnte ich meinen Amtskollegen vor den Kopf stossen.»
Jetzt gehts zum ersten Treffen mit dem algerischen Aussenminister in die «bilateral booth» – die bilaterale Kabine. Vier Stellwände, drei auf vier Meter, ein Orientteppich am Boden, acht Lederstühle und ein Tisch – Weltpolitik im Kleinformat. Die 36 Kabinen stehen so dicht beieinander, dass man den spanischen Delegierten von links ebenso hört wie den irischen Aussenminister von rechts. «Ein wenig fühlt man sich wie ein Tier im Zoo», sagt Cassis.
Ganz wichtig: die Fähnchen der beiden Länder auf dem Tisch. Beim Treffen mit Alexander Schallenberg, Österreichs Bundesminister für Europa, sorgt dies prompt für Lacher. Denn statt eines Schweizer Fähnchens steckt im Halter die EU-Flagge. «Für die Schweiz opfern wir die EU – schweren Herzens.» – «Dafür gibts für Sie ein Papier mit der Schweizer Position im EU-Rahmenabkommen», sagt Cassis.
«In meiner Postition sind Worte Waffen»
Ignazio Cassis
Um 12 Uhr mittags checkt der FDP-Magistrat bei einem Café den Schrittzähler auf seiner Uhr. «Schon 5000!» Sein Ziel seien 10 000 Schritte pro Tag. «In Bern komme ich meistens nur auf 4000. Darum gehe ich abends an der Aare joggen.» Kaum hat Cassis den Café hinuntergestürzt, darf er doch noch kurz in den Plenarsaal. «Dem Chef zuhören.»
Der Chef, das ist Bundespräsident Ueli Maurer. Der SVP-Mann ist auf Platz acht der Rednerliste, nach den Schwergewichten Trump («seine klare Aussage, er wolle keinen Krieg, hat mich gefreut») und Brasiliens Bolsonaro («ein Rundumschlag gegen den Sozialismus»). Letztes Jahr kritisierte Cassis die repetitiven Reden bei der Vollversammlung. «Das gilt nicht für die ersten 15!», sagt er heute. «Hier spüre man, wie sich die Welt in den nächsten Jahren entwickelt.»
Ende November ist Cassis zwei Jahre im Amt. In dieser Zeit sorgte der Aussenminister für einige Irritationen. Etwa mit seiner Aussage, das Uno-Hilfswerk für Flüchtlinge in Palästina erschwere den Frieden in Nahost. Oder mit seinem Lob auf Twitter für die umstrittene Kupfermine von Glencore in Sambia. «Der Undiplomat», titelte die «Bilanz», und SP-Aussenpolitiker Carlo Sommaruga kritisierte: «Cassis bereitet der Schweizer Diplomatie grosse Probleme.»
Der Bundesrat gibt offen zu: «Die Kraft meiner Worte war mir anfangs nicht so bewusst.» Er habe nie etwas Falsches gesagt. Und er möge keine Wischiwaschi-Politik. «Doch in meiner Position sind Worte Waffen. Ich musste lernen, sie gezielt einzusetzen.» Diplomaten hätten ihn dafür sensibilisiert, welche Auswirkungen gewisse Äusserungen haben.
«Die Gefahr besteht, dass am Schluss nur noch übermütige Primedonne auf dem Weltparkett regieren.»
Ignazio Cassis
Dass Cassis im geeigneten Rahmen immer noch gerne Diskussionen provoziert, beweist er tags darauf in der Schweizer Mission. Zuerst fragt er die Mitarbeiter von Botschaft und Konsulat, ob sie die Broschüre zu seiner aussenpolitischen Vision 2028 gelesen hätten. «Falls nicht – die 48 Seiten sind ein gutes Mittel, wenn Sie Schlafprobleme haben.» Die Menge lacht. Dann bringt Cassis nicht nur die Praktikanten in Verlegenheit, als er die drei EDA-Ziele für dieses Jahr wissen will. «Ich spüre, diese Frage ist Ihnen unangenehm – es geht mir nur darum, dass Sie auch mal Kontra geben. Auseinandersetzungen sind bereichernd!»
Er selbst stelle sich jeden Abend die Frage: «Was habe ich heute falsch gemacht?» Nie ganz zufrieden mit sich zu sein, das sporne ihn an. «Meine Frau sagte schon immer, ich sei rastlos.» Kritik tue ihm dann weh, wenn es nicht um die Sache, sondern um die Person gehe. «Das ist leider der Trend – nicht nur in der Schweiz.» Deshalb seien viele Politiker nicht mehr bereit, sich zu exponieren. «Die Gefahr besteht, dass am Schluss nur noch übermütige Primedonne auf dem Weltparkett regieren.»
Nach einem Stück Mandeltorte eilt Cassis zurück ins Uno-Hauptquartier für die nächsten Meetings. «Es könnte wohl ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump geben wegen seines Ukraine-Telefonats», sagt Cassis’ persönlicher Mitarbeiter auf dem Weg. «Ach ja?», fragt dieser. «Trump erfindet sich jede Woche neu.» Beim Treffen mit dem ukrainischen Aussenminister ist der US-Präsident gemäss Cassis aber kein Thema. Vielmehr geht es darum, eine Eskalation mit Russland zu verhindern. «Weil die Russen zurück in den Europarat kommen, will die Ukraine austreten. Ich habe ihm ans Herz gelegt, den Entscheid zu überdenken.»
Kaum ist dieses Treffen beendet, gehts in die nächste Kabine zu Katars Aussenminister. Es folgt der Amtskollege aus dem Iran und ein Händedruck mit Georgiens Departementschef. «Politisches Speed-Dating!», scherzt Cassis.
Das Mittagessen mit den Vertretern des Omans scheint kürzer zu dauern als geplant – Gemüse- und Truthahn-Sandwiches bleiben unberührt. Ein gutes oder schlechtes Zeichen? Immerhin hat der Oman eine wichtige Rolle im Konflikt zwischen den USA und dem Iran. «No comment», sagen der Aussenminister und seine Staatssekretärin Pascale Baeriswyl, 51. Die freut sich über die News, dass ein US-Journalist dank Schweizer Vermittlung aus iranischer Haft entlassen wurde. «Sehr gute Arbeit», sagt Cassis.
Von Spannungen ist zwischen ihm und der künftigen Chefin der Schweizer Uno-Mission in New York nichts zu spüren – obwohl die Medien fast unisono von einer «Versetzung» der SP-Frau schrieben. «Frau Baeriswyl ist clever», sagt Cassis. Für den Job bei der Uno brauche es gerade auch im Hinblick auf die Schweizer Kandidatur für den Sicherheitsrat die besten Leute. «Ich hätte sicher nicht zwei Jahre mit ihr zusammengearbeitet, wenn wir uns nicht verstünden.»
Sagts und hetzt für seinen Besuch beim Vertreter des Heiligen Stuhls ein letztes Mal durch New York. Am Ende dieser zwei Tage hat Cassis 30 000 Schritte auf seinem Zähler.