Lieber Robert Frank,
Der Schriftsteller Jack Kerouac hat es richtig gesagt: «You got eyes» – du hast Augen. Das grösste Kompliment für einen Fotografen. Er sieht, was andere übersehen. Sie sind im Kanada der Holzfäller und Fischer im Alter von 94 Jahren gestorben. Und werden eine Legende bleiben. Ein Schweizer, auf den wir alle stolz sind, obschon Sie das Land schon jung verlassen haben, weil es Ihnen zu eng war und die Kunstschulen eine konkrete, gutbelichtete, scharfe Fotografie lehrten.
Nicht Ihre Sache. Sie «flohen» in die USA, wo Sie mit dem Büchlein «Die Amerikaner» 1958 die damals kleine Fotowelt überwältigt haben. Eine Auswahl aus 20'000 bei Reisen quer durch Amerika aufgenommenen Schwarz-Weiss-Bildern.
Die Amis fanden die Fotos «amateurhaft», weil unretuschiert, unscharf, «unschön». «Les Américains» kam deshalb zuerst in Paris heraus. Sie zeigen darin ein melancholisches Bild von Amerika, aus der Hüfte, aus dem Auto, aus dem Tram geschossen. Gar nicht das, was in der Werbung und den Hochglanzmagazinen von den USA zu sehen war. Man nennt das heute Strassenfotografie, Schnappschüsse von zufällig gesehenen Menschen ohne Namen. «Drück ab und renne», sagten Sie. Heute würden Ihnen Anwälte wegen des Rechts aufs eigene Bild Ihrer «Opfer» nachrennen.
Ihre Bilder bleiben zeitlose, tiefmenschliche Dokumente, zu einer Zeit aufgenommen, in der Fotografie noch nicht zu überrissenen Preisen gehandelt wurde. Wo Fotografen, die «das Auge» hatten, beim Tod noch nicht auf den Titelseiten aller grossen Zeitungen gefeiert wurden. Wie Sie – zu Recht – diese Woche.
Adieu l'artiste.