Hast du warm genug?», fragt Peter Zihlmann (86). Der Mund seiner Frau Béatrice (85) bleibt stumm, ihr Blick ist leer. Die beiden sitzen im Mohrhaldenpark in Riehen, seit 60 Jahren sind sie miteinander verheiratet. Bedächtig zieht Zihlmann den Reissverschluss ihrer Jacke zu. Nach einem Weilchen zeigt er auf die nahe Sonnenuhr. «Weisch no?», fragt er, «auch am Ferienhaus deines Vaters am Sempachersee hatte es eine Sonnenuhr.» Ein Lächeln huscht über Béatrice Zihlmanns Gesicht, ein leises Ja kommt über ihre Lippen – dann taucht sie wieder ab in ihre eigene Welt.
Seit einem Jahr lebt Béatrice Zihlmann im Alterspflegeheim Dominikushaus in Riehen. Sie ist eine von 128'000 Demenzkranken hierzulande, drei Viertel davon sind Frauen. Ihr Arzt hat bei ihr eine fortgeschrittene Demenz diagnostiziert. Peter Zihlmann, vor seiner Pensionierung ein renommierter Basler Anwalt und Gerichtspräsident, besucht seine Frau täglich von zehn Uhr morgens bis nach dem Nachtessen. «Eine andere Lebensaufgabe habe ich nicht mehr. Ich sehne mich nach diesen Begegnungen.»
Seine Frau sitzt im Dominikushaus an einem Tisch, er streichelt ihre Hand, dann hält er ihr eine Gabel mit einer mundgerechten Portion Apfelkuchen hin. «Wotsch?» Doch ihre Augen fallen zu, sie döst weg. Heute sei seine Frau mittelprächtig zwäg, es gebe Tage, an denen sie gesprächiger sei. «Béatrice lebt in ihrer eigenen Welt. Diese hat ein paar Fensterchen. Mir ist ihre Welt verschlossen, damit hadere ich bisweilen.»
Liebe im Nebel
Folgendes Bild helfe ihm: «Béatrice schaut von einer Bergspitze auf ein Nebelmeer, manchmal hat es Nebel auch um sie herum. Doch ab und zu sieht sie Eiger, Mönch und Jungfrau.»
Zihlmanns Blicke ruhen auf seiner Frau. «Wenn Béatrice so dasitzt, fein und zart, dann sehe ich das Mädchen, in das ich mich verliebt habe.» Damals, vor 62 Jahren, an der Uni Basel, bei einer Vorlesung über Kunstbetrachtung. Zwei Jahre später heirateten die beiden. Zihlmann machte als Jurist Karriere. Der wichtigste Teil seines Lebens spielte sich im Beruflichen ab. «Béatrice sorgte im Hintergrund für eine Kulisse aus Sanftheit und Liebe, wortkarg, wie sie schon immer war. Sie malte viel, spielte Chopin auf dem Klavier. In unserer Lebensmitte verzieh sie einen Seitensprung. Wir haben sehr viel Schönes erlebt zusammen, unser gemeinsames erfülltes Leben genossen. Ich sage Béatrice noch heute jeden Tag, wie schön ich sie finde.»
Drei Jahre ist es her, dass Béatrice Zihlmann anfing, sich zurückzuziehen, ihr Gedächtnis liess nach. Mehr als einmal ruft sie auf dem Heimweg vom Coiffeur oder Einkauf ihren Mann an – sie kenne den Heimweg nicht mehr. Das Paar sucht dann jeweils nach einem ihr vertrauten Ort, Peter holt sie dort ab. Béatrice wird pflegebedürftig, ihr Mann kümmert sich aufopferungsvoll um sie, rund um die Uhr – er ist einer von 600'000 pflegenden Angehörigen in der Schweiz. Er übernimmt ihre Körperpflege, gibt ihr zu essen, verabreicht ihr Schmerztabletten, hilft ihr auf den Nachtstuhl. Es gibt Nächte, da sitzt seine Frau stundenlang wach im Bett, macht keinen Wank. Er sagt ihr, sie könne sich hinlegen, er decke sie dann zu – keine Reaktion. Um nicht einzuschlafen, liest Zihlmann in Dostojewskis Drama «Der Idiot».
In einer dieser einsamen Nächte beginnt er, Notizen zu machen – daraus entsteht sein Buch «Wo bist du?», Untertitel: «Eines langen Lebens Reise ins Vergessen». Darin schildert Zihlmann Stationen des gemeinsamen Lebens, seine Verzweiflung, seine Hoffnungen. In der Zeit, in der er seine Frau pflegte, habe er Béatrice etwas zurückgegeben. «Doch ich war zunehmend überfordert.» Als auch die Spitex an ihre Grenzen stösst, kommt Béatrice Zihlmann ins Dominikushaus. «Ich war verzweifelt. Mein Schmerz über die Trennung unfassbar gross. Das Schreiben half mir.»
«Du machst mich glücklich»
Béatrice Zihlmann öffnet die Augen. «Willst du ins Zimmer?» – «Gern.» In ihren vier Wänden schaut Zihlmanns Frau aus dem Fenster. Plötzlich deutet sie mit dem Zeigfinger zum Himmel, auf den Kondensstreifen eines Flugzeugs. Ihr Mann seufzt. «Dort oben, das ist ihre Welt. Es tut weh zu spüren, dass Béatrice oft traurig ist.» Zihlmann steht auf, holt das Bambi, das er ihr einmal geschenkt hat. «Weisch no?» – «Nicht lange her.» Er lacht, sagt: «61 Jahre.» Auch sie lächelt, kurz. Zihlmann erzählt ihr weiter von gemeinsamen Stunden, meist teilnahmslos hört sie zu. Einmal fragt sie: «Was hast du …» – dann bricht der Satz ab. «Béatrice entgleitet mir immer mehr.»
Nach dem Znacht zu zweit nimmt das Paar Abschied. Ein «Schmutz», es fliessen Tränen, bei beiden. «Bis morn.» Unten schwingt sich Zihlmann aufs E-Bike, schaut zum Fenster seiner Frau hinauf, winkt.
Jeden Tag ein Abschied
Daheim sinkt Zihlmann aufs Sofa. Sein Blick wandert durch die Stube. «Es schmerzt, wenn ich Béatrices Kleider und andere Sachen von ihr sehe.» Er nimmt einen Brief – es ist einer der letzten, den Béatrice ihm geschrieben hat, vor drei Jahren: «Du bist mein über alles geliebter Ehemann, seit 56 Jahren, du machst mich glücklich. Ich danke Dir für Deine Fürsorge und Güte. Mögen wir noch lange zusammenleben und einander lieben dürfen.»
Wenn Béatrice ihn irgendwann nicht mehr erkenne, «werde ich nicht mehr täglich zu ihr gehen wollen. Bis dann geniesse ich jede Minute mit ihr. Schade, können wir uns nicht mehr gemeinsam erinnern.» In seinem Buch umschreibt es Peter Zihlmann so: «Unsere gemeinsamen Gedanken sind wie Segelboote, die nun keinen Heimathafen mehr haben und ziel- und endlos auf den Wellen der Zeit gegen den Wind kreuzen.»
«Wo bist du?» von Peter Zihlmann, Arte Legis Editions, ist im Buchhandel erhältlich. Illustriert ist das Buch mit Zeichnungen, die einst seine Frau gemacht hat.