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Pink Cross-Präsident nach Ralf Schumachers Coming-out

«Im Sport herrscht ein toxisches Männlichkeitsbild»

Erst mit 49 Jahren hat sich Rennfahrer Ralf Schumacher geoutet. Für Adrian Knecht hat dies auch mit dem Stereotyp von Männern im Spitzensport zu tun. Der Co-Präsident von Pink Cross bietet Fifa-Chef Gianni Infantino Nachhilfe an, von Heterosexuellen fordert er mehr Zivilcourage.

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Adrian Knecht, CO Praesident Pink Cross Interview zum Outing von Ralf Schumacher, Gleisbar, Zuerich, 2024, Fotos: Geri Born

«Die Verlustängste bei einem Coming-out sind immer noch riesig», sagt Adrian Knecht in der Gleisbar in Zürich. Seit rund zwei Jahren ist er ehrenamtlich Co-Präsident der Schwulen-Dachorganisation Pink Cross.

Geri Born

Adrian Knecht (35) hatte sein Coming-out mit 24. Bis dahin hatte es der gebürtige Thurgauer nicht geschafft, mit jemandem über das Thema zu reden. Dann vertraute er sich einem guten Freund an. «Zehn Jahre später wurde ich Präsident des Schwulen-Dachverbands Pink Cross. Es ist viel passiert», sagt er schmunzelnd.

Herr Knecht, das Outing von Ex-Formel-1- Star Ralf Schumacher sorgt weltweit für Schlagzeilen. Warum dieser Wirbel?

Weil es immer noch aussergewöhnlich ist, wenn eine Person im Spitzensport ein Coming-out gibt. Ralf Schumacher ist erst die vierte Person, die sich im Motorsport outet.

Was ist mit anderen Sportarten?

Das Thema Sport beschäftigt uns als Verband immer wieder – gerade wenn sich eine bekannte Person outet. In den vergangenen Jahren waren das Schwinger Curdin Orlik oder Basketballer Marco Lehmann. Was auffällt: Im Mannschaftssport gibt es weniger Coming-outs als im Einzelsport.

Woran liegts?

Sowohl bei Orlik wie auch bei Lehmann spielten Verlustängste mit: Verlust von Sponsorings, von Anerkennung durch Teammitglieder, durch den Trainer, durch einen Verband. Dabei wissen wir aus der Psychologie, dass sich die sportliche Leistung eher verbessert, wenn eine Person freier ist, sie selber sein kann.

Doch die Ängste sind grösser?

Gerade im Fussball weiss ich von Leuten, die Angst haben, dass sie nach einem Outing von ihrem Ultra-Fanblock bedroht, verfolgt oder angegriffen werden. Der Sport ist neben der Religion der schwierigste Bereich für ein Outing. In anderen Bereichen ist Homosexualität angesehen.

Zum Beispiel?

In der Politik. Da schauen die Parteien darauf, dass sie möglichst divers aufgestellt sind. Vertritt ein Politiker oder eine Politikerin eine Minderheit, kann das ein Identifikationsmerkmal sein. Aber auch im Sport gibt es Bereiche, wo es akzeptierter ist, homosexuell zu sein.

Wo?

Etwa im Eiskunstlauf. Und da kommen wir zum Kernthema: Im Sport herrscht ein stereotypes, zum Teil toxisches Männlichkeitsbild.

Erklären Sie!

Einem homosexuellen Mann wird grundsätzlich das Maskuline abgesprochen. Wer nicht männlich ist, kann keine sportliche Leistung erbringen. Bei einer lesbischen Frau haben wir genau das umgekehrte Phänomen. Einer Fussballerin wird Männlichkeit zugesprochen. Leistung ist männlich, Spitzensport ist männlich – selbst wenn ihn Frauen ausüben.

Adrian Knecht, CO Praesident Pink Cross Interview zum Outing von Ralf Schumacher, Gleisbar, Zuerich, 2024, Fotos: Geri Born

«In unserer Gesellschaft gilt immer noch nicht die Vielfalt als Norm, sondern die Heterosexualität», sagt Knecht. 

Geri Born

Die letzte Fussball-WM der Frauen war die queerste WM der Geschichte. 120 Spielerinnen waren dabei, die offen homosexuell leben. Da herrscht anscheinend keine Angst vor Sponsoringverlusten.

Die Ängste der Sportler, dass Sponsoringpartner abspringen, sind heute unbegründet. Eine grosse Sportartikelmarke oder eine namhafte Bank können es sich nicht leisten, eine Person nach einem Coming-out fallen zu lassen. Im Gegenteil: Eine Marke kann sich modern und offen zeigen.

Ralf Schumacher – ein männlicher Typ – hätte in seiner aktiven Zeit mit einem Coming-out vor rund 20 Jahren zum Vorbild werden können.

Ja, und es ist schade, dass er diese Wirkung nicht hatte. Schumacher besitzt ein geschätztes Vermögen von 110 Millionen Euro und eine grosse Reichweite. Das sieht man daran, wie viele Promis ihm zum Coming-out gratuliert haben. Und doch hielt er die Beziehung mit seinem Partner zwei Jahre geheim. Das sagt aber weniger über ihn, sondern mehr über unsere Gesellschaft aus.

Wie kann man die Stereotype brechen?

Es braucht eine Haltungsentwicklung. Zum einen ganz oben in den Sportverbänden. Wenn Fifa-Boss Gianni Infantino ein Statement abgeben will: super. Aber bitte nicht so, wie er es in Katar getan hat, wo er sagte: «Ich fühle mich heute homosexuell.» Wir bieten ihm gern Unterstützung an. Natürlich fängt die ganze Sensibilisierung auch unten an. Trainer und Trainerinnen im Nachwuchs sollten sich für die verschiedenen Identitäten sensibilisieren und schauen, wie man ihnen gerecht wird. Was ich noch wichtiger finde als die sexuelle Orientierung, ist die Frage: Wie viel Männlichkeit braucht es im Sport? Leistung sollte mehr zählen als Männlichkeit.

Ralf Schumacher hat sich erst mit 49 geoutet. Ist das eine Generationenfrage?

Es ist extrem individuell, in welchem Umfeld man sich bewegt und was dieses ermöglicht. Entscheidet sich eine homosexuelle Person aufgrund des Umfelds dazu, ihre Identität zu verstecken, spielt sie eine gewisse Zeit ihres Lebens eine Rolle. Und mit den Jahren wird es immer schwieriger, die Kulissen dieses Theaters einzureissen. Wenn sich jemand mit 15 Jahren als schwul outet, hat das Umfeld noch keine klare Vorstellung davon, welche sexuelle Orientierung die Person mitbringt.

Was heisst das Theaterspiel für die betroffene Person?

Immer schwingt diese unterschwellige Angst mit, jemand könnte es merken. Das ist ein extremer Stress. Nicht umsonst haben homosexuelle Jugendliche eine hohe Suizidrate. Ralf Schumacher war 14 Jahre mit Cora Schumacher verheiratet.

Was bedeutet ein so spätes Coming-out für die Ex-Partner?

Ich habe noch nicht gehört, dass Ralf Schumacher sich ein Label gegeben hat. Vielleicht ist er bisexuell. Zudem kann sich Sexualität verändern, etwa durch die Begegnung mit einer neuen Person. Seine Ex-Frau hat die Fotos mit dem neuen Partner auf Instagram geliked. Sein Sohn stellte dort klar: Papa, ich stehe hinter dir. Das ist schön. Mein Rat im Umgang mit Angehörigen: sich gemeinsam hinsetzen und jenen Teil von der eigenen Geschichte erzählen, den jene nicht gekannt haben.

Adrian Knecht, CO Praesident Pink Cross Interview zum Outing von Ralf Schumacher, Gleisbar, Zuerich, 2024, Fotos: Geri Born

Aufgewachsen in Diessenhofen TG, leitet der studierte Sozialarbeiter heute in St. Gallen die Fachstelle für Aids- und Sexualfragen. Er lebt in St. Gallen und ist Single.

Geri Born

Eine neue Umfrage zeigt eine enorme Zunahme von homophoben Teenagern in der Schweiz. Was ist da los?

Auch unsere Helpline verzeichnet einen Anstieg von Hassverbrechen. Ein Grund ist, dass das Thema Homosexualität sichtbarer geworden ist. Der älteste Schwulenaktivist von Zürich, Ernst Ostertag, konnte sich nicht outen, weil er sonst den Beruf und die Wohnung verloren hätte. Also hat alles im Untergrund stattgefunden. Das gab natürlich eine gewisse Sicherheit. Heute dürfen queere Menschen zum Glück auch in der Öffentlichkeit sie selber sein. Durch diese erhöhte Sichtbarkeit entsteht viel mehr Angriffsfläche.

Etwa mit ESC-Star Nemo. Als geoutete nonbinäre Person ist Nemo omnipräsent. Ist dies gar kontraproduktiv?

Meistens geht es effektiv gar nicht um diese Person mit dieser sexuellen Orientierung, sondern es wird einfach ein Feindbild geschaffen. Auch mit der Politik, die gewisse Parteien und Kreise pflegen, legitimieren manche die Gewalt auf der Strasse gegen Homosexuelle. Das ist sehr gefährlich. Ich weise immer darauf hin, dass Heterosexualität auch omnipräsent ist. Wenn ein Lehrer vom Wochenende mit der Partnerin erzählt, ist das ein Coming-out, einfach heterosexuell.

Was kann man gegen Hate-Crimes tun?

Vieles, was passiert, basiert auf Unwissen oder falschen Annahmen. Die Schule hat gemäss dem Lehrplan 21 den Auftrag, verschiedene sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten zu thematisieren. Da kann man ansetzen.

FDP-Präsident Thierry Burkart beklagt sich, die Schule sei bereits zu woke.

Eine Schule muss gewährleisten, dass alle Mitarbeitenden, aber vor allem alle Lernenden ein sicheres Umfeld haben und sich entwickeln können. Wichtig ist, dass Schulen eine generelle Haltung entwickeln: Wie gehen wir mit Menschen um, die anders sind als die Mehrheit.

Ist das nicht Sache der Eltern?

Sexuelle Bildung und Aufklärung ist per Gesetz Auftrag der Eltern. Aber das funktioniert nicht.

Wieso wissen Sie das?

Ich bin auch Sexualpädagoge. In den Schulklassen frage ich immer, ob die Kinder mit den Eltern über Sexualität sprechen. Noch nie hat mir jemand erzählt, dass er oder sie es lässig findet, mit der Mutter und dem Vater darüber zu sprechen. Im Gegenteil. Darum greift die Schule per Gesetz subsidiär ein, unterstützt und ergänzt.

Alt Bundesanwalt Michael Lauber sagt im «Sonntagsblick», dass juristische Normen nur einen begrenzten Einfluss auf die Gesellschaft haben. Wie sehen Sie das?

Ich bin mit ihm einig. Die Behörden müssen die neuen Gesetzesartikel – etwa die Antirassismusstrafnorm – konsequent anwenden. Aber da geht es meistens um grössere Fische. Eine queere Person, die auf der Strasse angegriffen wird, stellt in den meisten Fällen keine polizeiliche Anzeige. Wir unterstützen alle, die das machen wollen. Was es vor allem braucht, ist Zivilcourage, sprich heterosexuelle Menschen, die hinstehen und sagen: so nicht!, wenn sie so einen Fall beobachten.

Nochmals zu Schumacher: Wird das Coming-out etwas verändern?

Ich hoffe, dass es für Ralf Schumacher viel verändert. Dass er frei leben darf. Im besten Fall können auch Personen seine Sexualität akzeptieren, die sich nicht in der linken Woke-Bubble bewegen, sondern in einem Umfeld, in dem ein sehr toxisches Männlichkeitsideal herrscht. Einfach weil sie ihn schon vorher bewundert haben. Zudem können die vielen positiven Reaktionen auf sein Coming-out andere Menschen ermutigen, ihm zu folgen.

Jessica Pfister
Jessica PfisterMehr erfahren
Interview: Jessica Pfister am 27. Juli 2024 - 12:00 Uhr