Sind Sie ein «Zweitheimischer»? So werden im Engadin heutzutage die Flachländer genannt. Zweitheimische leben und arbeiten im Unterland, verbringen aber viel Zeit in den Bergen. Sie haben meist eine Ferienwohnung und fühlen sich mit dem Bergdorf ihrer Wahl sehr verbunden.
Zum Beispiel mit La Punt Chamues-ch im Oberengadin, einem kleinen Dorf am Inn. Hier treffen wir Jon Erni, 53, der aus einem Auto mit Zürcher Nummernschild steigt. Erni ist
einer der Gründer von miaEngiadina, einem Verein, der hier die Digitalisierung vorantreibt. Die gesteckten Ziele kommen ihm schnell über die Lippen: «Das Engadin ans Glasfasernetz anschliessen, schnelles WLAN, Besucher, die nicht nur ihre Ferien, sondern auch einen Teil der Arbeitszeit hier verbringen, Jobs für Einheimische, die Abwanderung stoppen …» – kurz: das Engadin davor bewahren, den Anschluss zu verlieren.
Neben den Ein- und Zweitheimischen geht es miaEngiadina auch um die Heimwehbündner. «Einer davon bin ich!» Jon Erni ist Engadiner, hat aber Karriere im Unterland gemacht und wohnt mit Frau und Tochter in Thalwil ZH. «Beim Einstellungsgespräch bei Microsoft sagte man mir, ich könne arbeiten, wo ich wolle. Da ging mir ein Licht auf», sagt der gelernte Elektrotechniker. «Natürlich wollte ich mehr Zeit und einen Teil meines Arbeitsalltags im Engadin verbringen.» Heute ist er jede Woche drei bis vier Tage in Scuol, wo auch seine Eltern leben. «Menschen wie ich brauchen hier nicht nur schöne Natur, sondern auch Infrastruktur und Arbeitsplätze.» Gleich ergeht es seiner Mitarbeiterin Andrina Brunner, 30. Sie führt ein «multilokales» Leben zwischen Zuoz GR und ihrer Heimat Zürich.
Die Natur ist aber auch Teil des Konzepts: Erni führt uns an den Rand von La Punt, wo zwischen dem Wald und einem kleinen See ein strahlend blauer Camper steht – der Office Caravan. Er
ist eines der vielen Projekte, welche im Umfeld von miaEngiadina entstanden sind. Der Caravan ist ein Arbeitsplatz für moderne Nomaden. Initiantin Annina Coradi, 38, lebt halb in Zürich, wo sie herkommt, und halb in Pontresina GR. «Die Digitalisierung macht es möglich, dass wir an wunderschönen Orten wie im Engadin arbeiten können. Das ist eine riesige Chance!», so Coradi. Ihr Caravan bietet den Arbeitenden eine neue Umgebung. «In der Natur und an der frischen Luft sind auch die Ideen frischer.» Der Caravan wird vermietet und bietet Strom, WLAN, Kaffee – und einen Tapetenwechsel.
Neues Gebäude von Stararchitekt
Ganz gross hinaus will man im Dorf La Punt. Der Inn Hub, designt vom britischen Stararchitekten Norman Foster, soll hier bald die Baubewilligung erhalten. Ein 70-Millionen-Projekt in einem 700-Einwohner-Dorf. «Es wird eine Art Begegnungszentrum», sagt Jon Erni. «Mit Arbeitsplätzen, Restaurants und Gesundheitszentrum.» Der Weg vom Arbeitsplatz zur Physiotherapeutin und raus auf die Loipe oder den Wanderweg ist nah. Ein wenig ist Erni immer noch erstaunt, dass das markante Gebäude an der Gemeindeversammlung mit 85 Prozent bejaht wurde. «Die Leute wissen, dass man etwas gegen die Abwanderung tun muss. Sie wollen, dass Schule und Läden erhalten bleiben.» Bereits überlege sich die Rhätische Bahn eine Fahrplanänderung, um La Punt häufiger zu erreichen. «Wir müssen unsere Zukunft selber gestalten», sagt Erni, «sonst passiert nichts.»
Damit überhaupt etwas passiert im Engadin, brauchts erst mal Glasfaserleitungen. Haardünnes Glas, das Daten blitzschnell leitet. «MiaEngiadina ist dabei, das ganze Engadin
ans Glasfasernetz anzuschliessen», sagt Erni. Sein Verein hat dieses Grossprojekt selbst in die Hand genommen. «Denn ohne schnelles Internet verlieren wir hier oben definitiv den Anschluss.»
Im Engadin, so Erni, gehe sein Puls ruhiger. Aber sollte die Region nicht offline bleiben? Unberührte Natur, unberührte Computer? «Das ist nicht realistisch», sinniert der umtriebige Visionär während unserer Autofahrt nach Scuol. «Und es entspricht auch keinem grossen Bedürfnis. Während der Ferien sind die Co-Working-Büros am vollsten! Die Gäste wollen Freizeit und Arbeit verbinden. Dort, wo es schön ist.»
«Was ist ein Speicher?»
Wir sind im Schulhaus von Scuol. Über den Steinboden gehts durch den hölzernen Türrahmen ins Klassenzimmer der ersten Sek. Gearbeitet wird gerade auf dem iPad. Auch dahinter steckt Ernis Verein miaEngiadina. «Wer weiss, was ein Speicher ist?», fragt der Lehrer. «Die Karte beim Handy», sagt jemand. «Ein USB-Stick», ein anderer. Das Tablet ist für die Kinder selbstverständlich. «Ich lade Kochbücher runter, statt in die Bibliothek zu gehen», sagt Liv, 12.
Ufzgi korrigiert der Lehrer dank seinem Generalzugriff direkt auf ihren iPads und schickt den Schülern eine Sprachnachricht, wenn er etwas erläutern möchte. «Am liebsten mag ich die App ‹Good Notes›», erzählt Mara, 13. «Ich auch», sagt Alessia, 13. «Da drin können wir zeichnen und Notizen machen. Und die Lehrer können es sich nicht ansehen.» Die Mädchen schmunzeln. Dieses Klassenzimmer und das ganze Engadin mögen noch so digitalisiert sein – manche Dinge bleiben, wie sie sind.
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