Eine Strasse schlängelt sich hinauf auf den Ottenberg. Die Bise pfeift Peter Stamm um die Ohren. In der Hand hält er ein kleines, grünes Notizbuch. Gerne hätte er sich die Finger an einer Tasse Tee gewärmt, doch das Ausflugsrestaurant Thurberg hat Winterpause. Ihm zu Füssen liegt Weinfelden, wo er aufgewachsen ist. Der Bahnhof, das Schulhaus, die reformierte Kirche, die er Mutterkirche nennt, weil der Jugendstilbau einen aufnimmt wie eine Glucke: Zu allem gibt es eine Verbindung. Auch zum Marktplatz. Früher das Herz des Dorfs, mutierte das Zentrum im Lauf der Jahrzehnte zu einem Architekturmuseum der Abscheulichkeiten. Stamm: In jeder Dekade hat man es geschafft, noch etwas Hässlicheres hinzubauen.
Was unversöhnlich tönt, ist eine Liebeserklärung an den Ort, der Stamms Kindheit prägte, auch wenn er sich von seinen Wurzeln längst entfernt hat. Der Vater starb früh, die Mutter kam jüngst ins Altersheim. Stamm selber wohnt mit seiner Partnerin und den zwei gemeinsamen Kindern seit 30 Jahren in Winterthur. In seinem neusten Werk, «In einer dunkelblauen Stunde», stellt er sich die spannende Frage: Ist Heimat eigentlich da, wo man herkommt, oder da, wo man hinwill? Erstaunlich, wie einen die Kraft der einfachen Worte berühren kann!
Am 18. Januar feierte Peter Stamm mit 60 Freunden seinen 60. Geburtstag. Am selben Tag erschien sein achter Roman, in dem er sich selber zum Hauptdarsteller macht und ein rätselhaftes Verwirrspiel um einen erfolgreichen Schweizer Schriftsteller lanciert. Der Autor (im Buch heisst er Richard Wechsler) hat einer Filmemacherin und ihrem etwas naiven Lebenspartner zugesichert, einen Dokumentarfilm zu drehen. Doch er gibt sich sperrig, erscheint nicht zu den vereinbarten Terminen. Nein, dieser Antiheld lässt sich trotz Abmachungen nicht voyeuristisch in die Seele blicken. Kein Wunder, dass das Projekt fulminant scheitert, bevor es überhaupt begonnen hat. Lieber flirtet er mit der Journalistin, die wiederum hinter seinem Rücken in sein Leben eintaucht und auf seine langjährige Geliebte stösst. Diese ist Pfarrerin in einer reformierten Kirche und hat zwei Kinder. Kuckuckskinder? Man weiss es nicht.
Mit Klugheit und Raffinesse erschafft Peter Stamm ein Spiegelkabinett, das noch mehr verwirrt, wenn man weiss, dass die Dokumentarfilmer Georg Isenmann und Arne Kohlweyer 2019 im richtigen Leben die Idee hatten, die Entstehungsgeschichte eines Werks von Peter Stamm zu dokumentieren. Sie treffen ihn in Paris, wo er sich in einem Atelier einquartiert hat und die Gedanken sprudeln lässt.
Es ist eine Rückkehr in die Stadt, die ihn vor 40 Jahren erwachsen machte. Daneben führt die Reise in seine alte Thurgauer Heimat, wo er Neues und Vertrautes recherchiert, um es in sein Werk einfliessen zu lassen. Während der Dreharbeiten wird allen Beteiligten klar, dass die Geschichte von einem Schweizer Schriftsteller handeln wird, der sich beim Schreiben filmen lässt. Der Dok-Film wurde im Fernsehen gezeigt und feierte an den 58. Solothurner Filmtagen Premiere.
Maximal 600 Wörter pro Tag: In seinen Erzählungen schreibt Peter Stamm gerne über Menschen, die gewohnte Pfade verlassen und sich plötzlich in neuen Aggregatzuständen wiederfinden. «In einer dunkelblauen Stunde» knüpft an «Agnes» an (grandios verfilmt). Und an «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (Schweizer Buchpreis 2018). Was für ein Lesevergnügen: Wurden seine virtuos konstruierten Gedankenlabyrinthe bisher eher als sprachlich unterkühlt wahrgenommen, so strotzt sein neues Werk vor Humor und Witz.
«Ich wollte mal was Lockeres machen. Süffig geschrieben, wie ein flüchtiges Aquarell, bei dem Dinge zusammenkommen, die eigentlich nicht zusammengehören.» Ob der saloppe Stil ankommt beim Publikum? Stamm, der sich erst mit 35 Jahren zum Schriftsteller berufen fühlte, macht sich darüber wenig Gedanken. Er sieht es ähnlich wie sein Hauptdarsteller.
Dieser sagt auf Seite 251, kurz bevor er an Krebs stirbt: «‹I dont't give a shit›. Der vielleicht überhaupt wichtigste Satz für einen Künstler. Oder eine Künstlerin. Es kümmert mich nicht. Was die Leute denken, was die Kritiker schreiben, was der Markt will, wie meine Verkaufszahlen aussehen. ‹I dont't give a shit.› Ich mache, was ich für richtig halte. Man muss es sich leisten können, das zu sagen. Man kann es sich nicht leisten, das nicht zu sagen.»
Beim Fotografieren schaut Stamm gern ein wenig grimmig in die Kamera. «Autoren denken ja oft, sie müssten besonders nachdenklich aussehen. Doch es ist mein Grundgesicht, ich hab kein anderes», meint der ehemalige «Nebelspalter»-Journalist und lacht.
Sein Pfadiname sei schliesslich Clown gewesen. Doch auch die haben eine dunkle Seite. Und die dunkle Seite, so viel steht fest, ist das Salz in der Suppe, die seine Helden auszulöffeln haben – egal, wie gross ihre Sehnsucht nach intakten Gefühlen sein mag. Er selber ist glücklich mit seinem Leben. Eigentlich geht es um nichts anderes. Im April erscheint ein weiteres Kinderbuch im Carlsen Verlag. Geld und Ruhm bedeuten ihm wenig. «Ich brauche keine Jacht. Mein Auto ist 21 Jahre alt. Ich bin ein überzeugter Grüner und lebe seit 1985 in Winterthur. Hier ist die Atmosphäre entspannt. Wir haben einen Garten. Im Zürcher Seefeld, wo wir früher gelebt haben, können sich das nur Bankdirektoren leisten.»
Kurz: Er will genau so weitermachen wie bisher. Sich im Schreiben verwirklichen. Für die Kinder ein guter Vater sein. Mit seiner Frau, mit der er seit 26 Jahren nicht verheiratet ist, eine erfüllte Beziehung führen. Dass der Tod immer mehr ein Thema wird, macht ihm keine Angst. In seiner Fantasie bewegt er sich oft am Abgrund. «Klar überlege ich mir, wie lange ich noch habe. Das Umfeld konfrontiert einen zunehmend mit der Endlichkeit.»
Den Prozess des Abtretens sollte man nicht verdrängen. Ziel ist, dass man sagen kann: Es war gut. «Die grösste Gefahr ist zu glauben, das Beste komme noch. Als sei das ganze verdammte Leben nur ein Vorspiel. Und plötzlich, irgendwann, realisiert man: Hey, das wars. Da kommt gar nichts mehr.»