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SRF-Reporterin Luzia Tschirky

«Mein Kind wird von kämpferischer Natur sein»

Sie bringt uns den Schrecken der Ukraine ins Wohnzimmer. SRF-Reporterin Luzia Tschirky erzählt beim Besuch in der Schweiz, welche Spuren der Krieg bei ihr hinterlassen hat. Und was sich jetzt ändert, weil sie schwanger ist.

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Luzia Tschirky, Schweizer Fernsehjournalistin, Schweizer Radio und Fernsehen aus

Die 32-jährige Sarganserin ist im sechsten Monat schwanger. Die frühere Russland-TV-Korrespondentin lebt zurzeit mit ihrem Ehemann in Warschau.

Fabienne Bühler

Luzia Tschirky, ist der Krieg für Sie Alltag geworden?
Ich sträube mich innerlich dagegen. Vor einigen Tagen hat mein Mann zu Hause ein Erfrischungstuch mit dem Logo eines Restaurants in St. Petersburg gefunden, eines der letzten Dinge aus seiner Heimat. Dann sagte er, wir können ja wieder dorthin reisen, wenn der Krieg vorbei ist. Irgendwie war das ein absurder Moment für mich.

In der Schweiz ist der Krieg nicht mehr so präsent wie noch vor einigen Monaten.
Auch die Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich an den immer wiederkehrenden Luftalarm gewöhnt. Und dass sie anhand der Geräusche unterscheiden können, ob nun eine Drohne oder eine S-300-Rakete über ihre Köpfe fliegt.

Wann waren Sie zuletzt in der Ukraine?
Ende Oktober. Ich war bereits schwanger, hatte aber meinen Arbeitgeber davor noch nicht informiert. Die Verantwortung lag deshalb bei mir. Für mich war klar, ich reise weiterhin in die Ukraine. Es gibt ja auch andere schwangere Frauen dort – und die können nicht unbedingt entscheiden, ob sie da sein wollen oder nicht. Warum sollte ich ein grösseres Privileg haben?

Nun dürfen Sie wegen der Sorgfaltspflicht des Arbeitgebers nicht mehr in die Ukraine reisen. Wie ist das für Sie?
Es ist, wie es ist. Aber ich war überrascht, dass die Verantwortung nicht bei mir liegt. Natürlich wäre ich nicht an die Front gegangen, weil Druckwellen für ungeborene Babys gefährlich sein können.

Hat der Krieg Ihre Familienplanung beeinflusst?
Mein Mann und ich wollten schon lange Kinder, am liebsten, bevor wir 40 sind. Nun bin ich 32 Jahre alt, er 38. Und ich finde, Putin beeinflusst das Leben von genug Menschen. Ich wollte nicht, dass er auch noch unsere Familienplanung bestimmt. Wir freuen uns sehr auf das Kind.

Wollen Sie als Mutter ins Kriegsgebiet reisen?
Mein ungeborenes Kind war sicher schon fünfmal in der Ukraine. Ich werde es nicht sofort nach dem Mutterschaftsurlaub mitnehmen. Aber es wird bestimmt nicht unter den üblichen Umständen aufwachsen. Ich bin überzeugt, dass mein Kind von sehr kämpferischer Natur sein wird, denn es hat in den ersten Monaten der Schwangerschaft schon viel miterlebt.

Wie sieht Ihr Alltag momentan aus?
Ich koordiniere unsere Reportagen von Polen aus und schaue, dass mein Team in der Ukraine alles hat, etwa Solarpanels. Die Russen greifen gezielt die Infrastruktur an. Es gibt oft keinen Strom, kein Internet und kein Handynetz.

Auch Heizen wird zur Herausforderung.
Das ist ein Riesenproblem für alle Ukrainerinnen und Ukrainer. Es wird kälter, und ich rechne damit, dass jetzt noch mehr Menschen ausreisen.

Luzia Tschirky, Schweizer Fernsehjournalistin, Schweizer Radio und Fernsehen aus

Die TV-Journalistin arbeitete als Korrespondentin für das SRF in Moskau bevor Putin die Ukraine angriff, nun ist Tschirky als Kriegsreporterin im Einsatz.

Fabienne Bühler

Im September sind Sie in der befreiten Stadt Isjum in einem Wald mitten durch ein geöffnetes Massengrab gelaufen.
Das war schlimm, weil man diesen Geruch kaum aushalten kann. Die Leichen waren bereits mehrere Monate begraben. Ein Offizier der Armee zeigte mir einen Trick: eine Orange mitnehmen und die Schale einige Minuten vor die Nase halten, bevor man nahe rangeht. So trickst du dein Hirn aus: Du denkst dann, der süssliche Geruch der Leichen komme von der Frucht.

Auch in Butscha sahen Sie Ähnliches …
Weil es dort zu wenig Platz in den Leichenhallen gab, legten sie die toten Menschen in Kühlwagen ab. Wenn man die Türen öffnete, war der Laderaum von unten bis oben voll mit toten Menschen. Das war sehr schlimm.

Haben Sie Albträume?
An einen konkreten Albtraum erinnere ich mich nicht. Aber etwas in mir hat sich verändert: Wenn ein Töff vorbeifährt und dieses heulende Geräusch macht, tönt das für mich wie eine fliegende Rakete. Ich schrecke auf, das war vorher nicht so.

Wie wechseln Sie hin und her zwischen Luzia als Reporterin und Luzia als Mensch?
Ich habe viele Reporterinnen und Reporter gesehen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Man merkt, dass sie über nichts anderes als diesen Krieg reden können. Meine Aufgabe als Journalistin ist es, die Menschen zu Wort kommen zu lassen, die Schreckliches erlebt haben. Wenn ich selbst in einen Schockzustand gerate, bin ich eine Belastung für sie und kann meine Aufgabe nicht mehr erfüllen. Ich habe immer versucht, maximal zwei Wochen in der Ukraine zu bleiben – und dann wieder zu gehen. Wenn ich zu lange da bin und mich zu sehr reinziehen lasse, würde es wirklich schwierig.

Sie haben bis zum Ausbruch des Krieges in Moskau gelebt. Wie nehmen die Russinnen und Russen den Krieg wahr?
Ich war im Juni das letzte Mal dort. Es herrschte eine seltsame Stimmung. Man hat mir am Flughafen meinen Pass und meine Akkreditierung abgenommen und mich kontrolliert. Ich musste drei Stunden warten. Aus Sicherheitsgründen hatte ich ein Handy dabei, auf dem weder Kontakte noch Apps waren, nur die Nummern der Schweizer Botschaft und des SRF-Büros.

Wie haben Sie die Stimmung der Menschen wahrgenommen?
Viele Leute versuchen so zu tun, als ob nichts wäre. Ich fragte eine Barista in einem Café, wie es hier in den letzten Monaten gewesen sei. Sie bekam sofort Angst. Eine andere Frau hörte das und fragte, was ich wolle. Ich sprach mit ihr, und sie zeigte mir ihr Handy und den Chatverlauf mit ihrem Vater. Sie hatte ihm geschrieben, sie sei gegen diesen Krieg. Ihr Vater meinte, sie sei eine Verräterin. Nun lebt sie mit der Angst, von ihrem Vater verpfiffen zu werden.

Hat Putins Teilmobilmachung im September etwas verändert?
Ich war seither nicht mehr vor Ort, bin aber in Kontakt mit Menschen in Russland. Ein Teil der Familie meines Mannes lebt noch dort. Ich weiss von Männern, die sich irgendwo verstecken. Andere sind mit dem Velo über die Grenzen geflohen. Fast jede Familie ist jetzt betroffen.

Was geschah mit Ihrer Wohnung in Moskau?
Ich habe sie gerade nach Beginn des Grossangriffs kurzfristig aufgelöst, aus einem Bauchgefühl heraus. Ich schickte meine Möbel zurück in die Schweiz. Nur meinen Schmuck durfte ich nicht ausführen. Die Ohrringe, die ich von meinen Eltern geschenkt bekommen habe, gab ich meiner Nachbarin. Als ich drei Monate später wieder in Moskau war, holte ich sie bei ihr an der Haustür ab. Das war für mich auch ein absurder Moment.

Hat der Krieg Sie verändert?
Ich schätze viele kleine Sachen, wenn ich in der Schweiz bin. Etwa, dass ich einfach den Herd anmachen kann – und er funktioniert. Oder dass ich nachts ohne Luftalarm durchschlafen kann. In Frieden leben ist nicht selbstverständlich.

SD
Silvana DegondaMehr erfahren
Von Silvana Degonda am 17. Dezember 2022 - 12:00 Uhr