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Livia Leu zu den Unruhen im Iran

«Ich bewundere die iranischen Frauen»

Die Gewalt im Iran beschäftigt auch die Schweizer Politik. Livia Leu kennt das Land gut, sie lebte ab 2009 vier Jahre als Botschafterin in Teheran. Die heutige Staatssekretärin kontert die Kritik an der zögerlichen Haltung der Schweiz: «Hinter verschlossenen Türen läuft viel.»

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Livia Leu, Staatssekretärin

Spitzendiplomatin Livia Leu, 61, in ihrem Büro im Bundeshaus West: «Die Bilder aus dem Iran machen mich sehr betroffen.»

Kurt Reichenbach

Im Büro von Staatssekretärin Livia Leu, 61, hängt eine riesige Weltkarte. «Sie war schon hier, als ich das Büro bezog, aber nicht aufgehängt», erzählt sie. «Ich musste ein paar Länder anpassen und neu einzeichnen lassen, Südsudan beispielsweise.» Seit zwei Jahren ist die Bündnerin die Nummer 2 im Departement von Aussenminister Ignazio Cassis. Bei ihrem Amtsantritt war die Beziehung der Schweiz zur EU die grösste Baustelle – heute ist die ganze Welt aus den Fugen.

Livia Leu, aus dem Iran erreichen uns Bilder von gewaltsamen Protesten. Sie kennen das Land gut, Ihre Stimmungslage?
Es macht mich sehr betroffen. Als ich 2009 als Botschafterin in der Hauptstadt Teheran ankam, gab es ebenfalls grosse Proteste. Es war nach der Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadineschad, die sogenannte Grüne Revolution. Auch damals sind die zuerst friedlichen Proteste zunehmend gewaltsam unterdrückt worden. Die Schweiz setzt sich seit Langem für Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein, ich habe damals selber beim Aussenministerium vorgesprochen.

Auslöser der jetzigen Proteste ist der Tod von Mahsa Amini, nachdem die Polizei sie wegen ihrer «unislamischen» Kleidung verhaftet hat. Hat es Sie je gestört, ein Kopftuch zu tragen, als Sie Botschafterin waren?
Es gibt eine klare Gesetzesvorschrift im Iran, dass alle Frauen ein Kopftuch tragen müssen im öffentlichen Raum. Als Diplomatin muss man die Gesetze des Gastlandes respektieren, ob man sie richtig findet oder nicht. Das obligatorische Kopftuch ist ein Symbol für die fehlende Gleichstellung der Frau – das sieht man heute sehr gut. Immer wieder scheiden sich die Geister daran, immer wieder führt es zu Widerstand. Und ja, es braucht viel Mut, in Teheran ohne Kopftuch auf die Strasse zu gehen. Ich habe die iranischen Frauen immer als mutig erlebt und sie dafür bewundert.

Geht es um mehr als einen Protest der Frauen?
Es gibt ja auch ganz viele Männer, die zusammen mit den Frauen protestieren. Das ist nicht nur eine Frage von Frauen und Männern, sondern wie sich die Gesellschaft zu solchen Einschränkungen generell stellt. Was interessant ist: Erstmals lassen sich auch männliche Stimmen aus dem Regierungssystem vernehmen, die für eine liberale Regelung der Kopftuchfrage plädieren. Das ist schon eine neue Tonalität.

Schweizer Parlamentarierinnen kritisierten, die Schweiz schweige zu der brutalen Unterdrückung des Regimes.
Die Schweiz hat sich als eines der ersten Länder geäussert. Bundespräsident Cassis hat in New York am Rande der UN-Vollversammlung vier Tage nach dem Tod von Mahsa Amini den iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi darauf angesprochen und eine unabhängige Untersuchung verlangt. Das hat er auch öffentlich kommuniziert. Danach haben wir rasch sowohl in Bern wie auch in Teheran diplomatisch interveniert und auch beim UN-Menschenrechtsrat klar Position bezogen. Die Schweiz schweigt nicht, wenn es um Menschenrechte geht. Im Iran sind wir in einer speziellen Position als Schutzmacht der USA. Da müssen wir genau überlegen, wann und wie wir uns öffentlich äussern.

Die Schweiz vertritt seit 1980 die USA im Iran, ist sozusagen diplomatischer Briefträger. Hilft das in einer solchen Krise?
Ja, ich glaube schon. Die Schweiz ist im Iran anerkannt und beliebt bei den Menschen. Dass wir neutral sind, hat sicher geholfen, dass die Schweiz als Schutzmacht akzeptiert wurde – was wiederum half, Vertrauen aufzubauen. Es geht bei diesem Mandat aber um einiges mehr als um die Übergabe von Briefen.

Und inwiefern hilft das?
Indem wir die notwendigen Zugänge haben zu Behörden mit verschiedenen Zuständigkeiten. So können wir unsere Anliegen bei den richtigen Stellen deponieren.

Was unternimmt die Schweiz konkret, um auf die Einhaltung der Menschenrechte im Iran zu pochen?
Wir haben schon früh den iranischen Geschäftsträger in der Schweiz vorgeladen. Unsere Botschafterin in Teheran hat im Aussenministerium interveniert und sich für die Demonstrations- und Meinungsfreiheit der Protestierenden eingesetzt. Wir haben einen Menschenrechtsdialog mit den iranischen Behörden. Sie sehen: Hinter verschlossen Türen, auf diplomatischem Weg, läuft viel, und wir reden offen und ehrlich mit dem Iran. Manchmal bewirkt es mehr, die Kritik direkt zu adressieren als über die sozialen Medien.

Die EU hat weitere Sanktionen gegen den Iran beschlossen. Verantwortliche, darunter auch die sogenannte Sittenpolizei, erhalten Einreiseverbote, zudem wird ihr Vermögen in der EU eingefroren. Wird die Schweiz diese Strafmassnahmen übernehmen?
Das Wirtschaftsdepartement ist zuständig und daran, die neuen Sanktionen der EU zu prüfen und das weitere Vorgehen festzulegen. Die Schweiz übernimmt selbstverständlich Sanktionen, wenn die Uno sie beschliesst. Bei der EU auch in den meisten Fällen, aber der Bundesrat muss dies immer im Einzelfall prüfen.

Livia Leu, Staatssekretärin

Livia Leu mit Blick auf den russischen Angriffskrieg: «Wir sind sehr solidarisch mit der Ukraine.»

Kurt Reichenbach

Es sind keine einfachen Zeiten, in denen Sie Staatssekretärin geworden sind. Stichwort EU. Letzte Woche waren Sie zum fünften Mal für Sondierungsgespräche in Brüssel.
Die Schweiz und die EU führen Sondierungen auf Basis eines Paketansatzes. Dieses Paket umfasst eine breite Palette von verschiedenen wichtigen Themen. Um hier Lösungen zu finden, die für beide Seiten stimmen, braucht es Zeit. Es lohnt sich aber, diese zu investieren, wenn wir so den Weg für künftige Verhandlungen ebnen können.

Der Druck steigt. In einem Podcast von SRF fordern frühere Bundesräte, auf das Rahmenabkommen zurückzukommen.
Der Bundesrat hat versucht, das Rahmenabkommen abzuschliessen. Doch er musste feststellen, dass bei wichtigen Themen für die Schweiz – wie dem Lohnschutz oder der Zuwanderung – zu grosse Differenzen bestanden. Unter diesen Umständen wäre es nicht realistisch, das Rahmenabkommen einfach wieder aus der Schublade zu nehmen. Darum ist unser Paketansatz schon der richtige Weg. Sowohl die Schweiz wie auch die EU sind interessiert, die für beide Seiten wichtigen bilateralen Beziehungen zu erhalten und auszubauen.

Ein Blick auf die Ukraine: Ein Ende des Kriegs ist nicht abzusehen. Im Gegenteil. Müssen wir Angst vor einem dritten Weltkrieg haben?
Wir alle sind in grosser Sorge. Ich habe letzte Woche den russischen Botschafter Sergei Garmonin zu mir bestellt, um ihm das und die klare Haltung des Bundesrats mitzuteilen. Dazu gehört insbesondere ein Ende der Kriegshandlungen und der Respekt des humanitären Völkerrechts. Dafür engagieren wir uns sehr. So haben wir auch die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Lugano ausgetragen. Bundespräsident Cassis ist nächste Woche in Berlin bei einer weiteren Wiederaufbaukonferenz, für die Lugano die Basis gelegt hat.

Was kann die Schweiz da machen?
Wir spielen als Hüterin der Lugano-Prinzipien eine wichtige Rolle. Diese legen fest, dass der Wiederaufbau transparent und demokratisch erfolgen soll. Wir schauen, dass die Prinzipien eingehalten werden. Wir sind aber auch präsent mit humanitärer Hilfe und haben viele Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Wir haben Sanktionen gegen Russland und gegen Belarus umgesetzt. Die Schweiz ist solidarisch mit der Ukraine und mit der EU.

Freuen Sie sich, dass die Schweiz ab 2023 eine aktive Rolle im Uno-Sicherheitsrat hat? Sind wir vorbereitet?
Ja, vorbereitet sind wir gut. Aber die Situation ist schwierig. Wenn ein permanentes Mitglied wie Russland so offen gegen das Gewaltverbot verstösst, ist das natürlich der Glaubwürdigkeit der Uno nicht förderlich. Viele Länder sagen uns, umso mehr brauche es gerade jetzt die Schweiz als Brückenbauerin. Weil wir unsere Guten Dienste über die Jahre professionalisiert haben und weil wir selber ein politisches System haben, das auf Konsens und Kompromiss aufbaut. Diese Erfahrungen wollen wir im Uno-Sicherheitsrat einbringen.

Wie erholen Sie sich persönlich inmitten dieser weltpolitischen Stürme? In den ruhigen Bündner Bergen?
Ausflüge in die Berge kommen zurzeit etwas zu kurz. Aber ich muss schon schauen, dass ich meine Batterien aufladen kann. Die Natur und Bewegung sind für mich sehr wichtig. Ich wandere gern. Aber auch die Familie gibt mir viel. Bei ihr kann ich auftanken – für sie nehme ich mir bewusst Zeit. Meine zwei Söhne sind aber schon erwachsen, sie geniessen ihre Freiheit (lacht).

SD
Silvana DegondaMehr erfahren
Von Silvana Degonda am 23. Oktober 2022 - 12:26 Uhr