Zwei Körper, zwei Welten. Anik Mumenthaler ist wegen eines Tumors im Nacken halsabwärts gelähmt – ausser ihren Kopf kann sie nichts mehr bewegen. Die 32-jährige Bernerin sitzt im Rollstuhl am Strassenrand und versucht vergeblich, ihren rechten Daumen hochzustrecken. Denn nun kommt Isa Pulver, 49, auf dem Rennvelo angebraust: Auf einem Rundkurs in ihrem Wohnort Ittigen bei Bern absolviert die 49-Jährige ein 24-Stunden-Training. Einen Tag sitzt sie ununterbrochen 450 Kilometer im Sattel – ein Härtetest fürs Race Across America.
Das Race ist das härteste Velorennen der Welt. 4800 Kilometer von der Westküste der USA an die Ostküste. 52 000 Höhenmeter. Hohe Pässe, unendlich lange Geraden, brütende Hitze und klirrende Kälte, Wind und Regen. 2015 hat Ultracycling-Fahrerin Isa Pulver diese Tortur schon einmal mitgemacht. 10 Tage, 21 Stunden und 7 Minuten brauchte sie als schnellste Frau.
Montagmorgen, das 24-Stunden-Training vom Weekend steckt ihr noch in den Knochen. Isa Pulver steht im Physiotherapieraum der Stiftung Rossfeld, Kompetenzzentrum für Körperbehinderte in Bern. Hier arbeitet die Physiotherapeutin als Leiterin des Physio-Teams. «Danke für eure Unterstützung gestern!», sagt Pulver zu Anik Mumenthaler und legt einen Pfeil in deren Blasrohr. Um ihre Lungenaktivität zu fördern, trainiert die Körperbehinderte Blasrohrschiessen – auf drei Meter trifft sie punktgenau ins Schwarze.
Seit 16 Jahren ist Mumenthaler in Pulvers Therapie. «Von Isa habe ich gelernt, wie stark das Mentale unsere Leistung beeinflusst. Sie geht immer an ihre Grenzen. Das verlangt sie auch von uns. So geben auch wir alles.»
In die Physio kommt auch Sarah Schmid, 38. Sie leidet seit Geburt an Muskeldystrophie, ihre Muskulatur bildet sich stetig zurück. Nun trainiert sie am Zugapparat ihre Schultern, Pulver gibt Tipps. Immer wieder erzähle Isa von ihren Rennen, sagt Schmid. Dann philosophieren die beiden darüber, wie man sich pushen kann. «Sich immer wieder einen Schupf geben! Alles versuchen, um ein Ziel zu erreichen!» Ein «Geht nicht» gibts nicht bei Pulver. Sarah: «Ich bewundere sie. Wir sind Freundinnen geworden.»
Die Therapeutin legt ihre Hand auf Sarahs Schulter: «Ich lerne viel von euch: Einsatz, Beharrlichkeit, Geduld.» Durch ihre Arbeit mit körperlich beeinträchtigten Menschen erfährt Pulver täglich, wie diese ans Limit kommen. «Um ihren Alltag zu meistern, müssen sie immer wieder Grenzen verschieben», sagt sie. «Ich will selber erfahren, was es heisst, körperliche und mentale Grenzen zu erreichen. Und was es braucht, sie zu verschieben. Erst so kann ich meine Patienten optimal unterstützen.» Darum hat Isa Pulver mit 39 Jahren ein Rennvelo gekauft.
20 000 Kilometer im Jahr absolviert sie auf ihren beiden Scott-Rennvelos. Eine ihrer Tagestrainingsstrecken: Ittigen–Grimsel–Furka–Susten–Ittigen. 300 Kilometer. Die Trainingspläne stellt ihr Ehemann Daniel, 50, zusammen. Als Sporttherapeut war er Konditions- und Reha-Trainer beim FC Basel und bei YB. Seit Geburt ist er sehbehindert, auf einem Auge sieht er nichts, auf dem anderen noch 20 Prozent. «Isa ist sehr fokussiert und diszipliniert.»
Seit dieser Woche pedalt die Physiotherapeutin wieder durch Amerika. Ziel: Titelverteidigung. Der Tross mit neun Betreuungspersonen und Daniel begleitet sie mit Auto und Motorhome. Isa: «Ohne Teamwork gehts nicht.» 20 Stunden pro Tag ist sie am Pedalen, 4 Stunden Schlaf am Stück. Essen (Stocki aus Plastiksäckli), 10 Liter trinken pro Tag, Zähne putzen: alles fahrend, abgestiegen wird nur fürs WC. Gegen Schmerzen am Hintern: salben! «Und ich versuche, das zu verdrängen.» Nach dem Rennen 2015 dauerte es sechs Wochen, bis sich der Körper erholt hatte. Isas Motivation? «Ich habe Freude am Velofahren, an Landschaften bei Tag und Nacht, will meine Grenzen ausloten. Selbstmitleid bringt nichts!»
Zwei Körper, eine Welt. Und dann gibts da ja noch die Unterstützung von Anik, Sarah und vielen anderen Behinderten vom Rossfeld. In der dortigen Eingangshalle steht während des Race ein grosser Bildschirm. Darauf sind Isas Routendaten abgebildet, sie selber ist als blinkender Punkt zu sehen – live aus den USA. Viele Rossfeldler sitzen davor, staunen. Einige senden Isa per Whatsapp Nachrichten, der Fan-Chat läuft 24 Stunden am Tag.
Das Begleitteam liest die Mitteilungen vor, Isa hört sie über Kopfhörer. Meldet das Team, dass Isa nächstens in Sekundenschlaf fallen wird, posten die Fans sofort Motivationsaufrufe. Oder lassen Isa ein Rätsel raten, wollen von ihr wissen, welche Musik das Team abspielen soll. «Meistens wünsche ich mir Lieder von Trauffer. Dann bin wieder für zwei, drei Stunden wach», sagt Pulver. «Ohne meine Fans würde ich das Rennen nicht schaffen.»