Zweieinhalb Kilometer schlängelt sich die rote Linie aus Sicherheitsnetzen den Berg gegenüber hinab. «Schon cool», sagt Jasmine Flury, die auf der Terrasse des Hotels Allodis in Méribel in der Sonne steht, «die komplette Strecke von hier aus jeden Tag so zu sehen». Die Strecke, die sie Ende Woche am schnellsten meisterte. Sensationssiegerin, die zehnte Abfahrtsweltmeisterin aus der Schweiz! «Das klingt noch surreal.»
Entsprechend viele Tränen gibt es bei der 29-Jährigen, dazu eine ausgelassene Nacht im House of Switzerland und keine Stunde Schlaf, weil der Film des Tages vor ihrem inneren Auge ohne Unterbruch läuft. Einmal hat sie bisher im Weltcup triumphiert, war neunmal in den Top 5, hat oft gelitten, früher wegen starker Hüftprobleme sogar mal an der Skikarriere gezweifelt.
«Wir sind gemeinsam durch Tiefs und Hochs. Das schweisst zusammen»
Corinne Suter
Die erste Bündnerin, die einen Weltcupsieg im Ski Alpin feierte. Daraufhin bürdete sie sich selbst «einen ziemlichen Rucksack» an Erwartungen und Druck auf. Es nagte an ihr, dass das Rennen unter wechselhaften Bedingungen stattgefunden hatte. Sie wollte unbedingt beweisen: Der Sieg war verdient. «Das passiert mir nun nicht mehr», hält sie strahlend fest. Den Weltmeistertitel will und wird sie geniessen. «Die Goldmedaille kann mir niemand mehr nehmen.» Am Abend des Sieges traf sie Patrick Küng, Abfahrtsweltmeister 2015, im House of Switzerland. Er sagte ihr, sie beide seien nicht diejenigen, die Rennen um Rennen gewinnen würden, also solle sie diesen Titel auskosten.
Milchkühe, Hühner, Alpschweine
Flury wächst auf einem Bauernhof im Walserdorf Monstein bei Davos GR mit knapp 200 Einwohnern auf. In ihrem Jahrgang hat es in der Schule sieben Kinder – ein Rekord! Rund zwanzig Milchkühe, dazu Hühner und Alpschweine gehören zum Hof, Jasmine und ihre beiden älteren Schwestern sind als Kinder für die Hasen und die Hühner verantwortlich. Die Tierliebe ist geblieben, heute hat Flury noch Büsi Chip, und auch in Monstein wohnt die Singlefrau mittlerweile wieder, in einer Wohnung.
Mit drei Jahren fährt Jasmine ihr erstes Rennen. Eigentlich ist sie dafür noch zu jung, doch sie möchte unbedingt den Schwestern nacheifern, weshalb sie einfach die Vorfahrerin gibt. Am Start dreht sie sich um und fragt: «Papa, wo muss ich anhalten – im Restaurant oder bei der Talstation?»
Allerlei Leute springen im Veltlinerstübli ein
Und nun sitzt dieser Papa Georg in einem Restaurant in Méribel statt in Monstein neben der Talstation. Er hat keinen Bauernbetrieb mehr, sondern das «Veltlinerstübli», wo er an diesem Abend eigentlich sein sollte. Doch seine Tochter ist gerade Weltmeisterin geworden, und da sind allerlei Leute in Monstein eingesprungen, damit die beiden Gastgeber – seine Frau Corinna im Service, Georg in der Küche – mit Jasmine feiern können. «Es ist ein unbeschreibliches Gefühl», sagt der Vater. «Sie musste so lange kämpfen. Dass es nun so weit gekommen ist, bedeutet für einen Vater alles.»
Sie alle haben jahrelang in einer grossen Patchworkfamilie zusammengelebt. Flury und ihre zwei Schwestern, zwei Stiefbrüder – einer ist Profilangläufer Jason Rüesch – und ein jüngerer Halbbruder. Alle sind sehr sportlich unterwegs, Jasmine mittendrin, damals sehr unbeschwert. «Auch beim Skifahren», blickt sie heute zurück. «Ich bin einfach drauflosgefahren, habe nicht viel überlegt und geschaut, was rauskommt.» Sie verzichtet nach der Sekundarschule gar auf eine Ausbildung, setzt voll auf den Skisport. Diese Lockerheit hat sie später ein Stück weit verloren – nicht nur durch Verletzungen. Die Unbeschwertheit kippte teilweise ins Gegenteil, «weil ich mich fast zu fest darauf versteift hatte, alles perfekt zu machen, als alles professioneller wurde». Ernährung, Konditionstraining, Mentaltraining – überall versuchte sie, immer alles richtig zu machen. Erst mit den Jahren und der Erfahrung gewinnt sie die Reife, nicht immer alles so genau zu nehmen. Auch die 18 guten Schwünge zu sehen anstatt nur die zwei schlechten.
«Es ist unbeschreiblich. Das bedeutet für einen Vater alles»
Georg Flury, Vater
Die Goldfahrt in Méribel: von A bis Z stark. Mit der Familie, die in Frankreich nicht dabei sein konnte, telefoniert sie: mit den Geschwistern, der Mutter sowie Nana, ihrer fast 94-jährigen Grossmutter, «mein grösster Fan und meine grösste Kritikerin», wie Flury lachend sagt. Über ihren Anruf hat sie sich besonders gefreut – neben dem der Schwester kurz nach dem Sieg. Mit den Neuigkeiten, dass diese in den Wehen im Spital liege. Jasmines Lauf habe sie gerade noch am Fernsehen schauen können, bevor es weiterging. «Unglaublich emotional», findet es Jasmine, dass sie genau dann zum dritten Mal Tante wird. «Die Kleinen geben mir extrem viel», schwärmt sie.
«Jasmine kennt mich in- und auswendig»
Noch mehr Gefühle? Bitte: Da ist noch die Tatsache, dass ihre beste Freundin Corinne Suter mit ihr auf dem Podium steht. Und diese schwärmt vom doppelten Glücksmoment: «Ich hätte nie gewagt, an so was zu glauben. Jasmine kennt mich in- und auswendig. Und umgekehrt», sagt Suter, 28. Beide wüssten, wie viele Tränen sie schon vergossen hätten und was es alles brauche, um am Tag X auf dem Podest zu stehen. Jasmine habe es so fest verdient. «Es ist ihr grosser Tag.»