Für Einheimische ist es der perfekte Tag zum Sonnenbaden am norditalienischen Lago di Monate einige Kilometer westlich von Varese. Die Sonne scheint. Das Wasser ist ruhig, nur kleine Wölkchen spiegeln sich darin. Die Stille wird bloss von Vogelgezwitscher durchbrochen.
Auch für Jeannine Gmelin sind es ideale Bedingungen. Doch der Kontrast zu den Sonnenanbetern könnte grösser nicht sein. Für die Ruder-Weltmeisterin im Skiff ist Rudern, Schwitzen und Sichquälen angesagt. Im Boot, im Kraftraum, auf dem Ergometer. Rund fünf bis sechs Stunden pro Tag. «Das ist genau das, was ich liebe», sagt Gmelin und lacht.
Diese Aussage ist nicht selbstverständlich. Denn das vergangene halbe Jahr war für Gmelin die schwierigste Zeit ihrer bisherigen Karriere: Zuerst werfen sie eine Blinddarm-Operation und Rückenprobleme zurück. Und noch viel schlimmer: Wegen Streit mit dem Schweizer Ruderverband Swiss Rowing, der in der Entlassung ihres Trainers endet, ist sie am Boden zerstört.
«Ich war verunsichert und mental so erschöpft, dass ich es gerade noch geschafft habe, zu schlafen und zu essen. Ich hatte kaum Energie fürs Training und keine Freude mehr am Rudern», sagt Gmelin. Die 28-Jährige spielt gar mit dem Gedanken, die Sportart zu wechseln und es als Bahnradfahrerin zu versuchen – oder ganz zurückzutreten.
Mit der Freistellung ihres Trainers Robin Dowell drohte Gmelin, ihre wichtigste sportliche Vertrauensperson zu verlieren. Mit ihm als Coach hatte die Ustermerin während fast zwei Jahren einen unglaublichen Lauf: Sie gewann Weltcup um Weltcup und krönte sich 2017 zur Weltmeisterin.
Doch nicht alle Athleten des Nationalkaders verstanden sich mit dem Briten. Swiss Rowing engagierte deshalb vergangenen Frühling einen neuen Headcoach. Gmelin durfte fortan nicht mehr nach den Plänen Dowells trainieren – der Formel, die sie an die absolute Weltspitze gebracht hat. In den folgenden Monaten spürt sie, dass ihre Form nachlässt. Tests bestätigen dieses Gefühl.
Prompt muss sie sich an der WM im September nach 25 Monaten und 22 Siegen in Folge mit dem zweiten Platz begnügen. «Ich kann damit leben, Zweite zu werden. Aber nicht, wenn ich weiss, dass mehr in mir steckt», sagt die kompromisslose Athletin.
Ihrem Anliegen, im Nationalen Leistungszentrum in Sarnen OW trainieren zu können, jedoch individuell nach ihren Bedürfnissen, wird nicht nachgekommen. Stattdessen erhält Dowell die Kündigung. «Ich sah mein sorgfältig über die Jahre aufgebautes Kartenhaus auf einen Schlag zusammenfallen.»
Nun ist eine der grössten Schweizer Hoffnungen auf Olympia-Gold in Tokio 2020 dabei, Karte um Karte wieder aufzubauen. Mit einem völlig unabhängigen Privatteam – und ihrem neuen alten Trainer.
Doch statt Erleichterung gibts zuerst viele offene Fragen: Wo kann sie trainieren? Wie transportiert sie ihr 12 000-Franken-Hightech-Boot? Wer kümmert sich um ihre Reisen, ihre Verpflegung, die ganze Logistik? Und vor allem: Wie finanziert sie das Projekt, das über 100 000 Franken pro Jahr kostet – ohne dass sie einen Rappen auf die Seite legen kann?
«Dazu kam der Druck, beweisen zu müssen, dass mein Weg richtig ist, sowie das schlechte Gewissen, nun eine Extrawurst zu haben. Denn das entspricht mir überhaupt nicht.» Dank Sponsoren, Sporthilfe und Teilzeitanstellung bei der Schweizer Armee gelingt es ihr, die Finanzierung sicherzustellen.
Und mit Unterstützung des Präsidenten des Ruderclubs Uster, ihrem Management und Dowell organisiert Gmelin ihr neues Leben. Sie bleibt in Sarnen wohnen – «die einzige Konstante» –, trainiert nun aber vor allem im Ausland. In der Schweiz gibt es kaum geeignete Trainingsmöglichkeiten. In ihrer Heimat am Greifensee etwa sind zwar Ruderboote erlaubt, dafür keine Motorboote, mit dem sie ihr Coach begleiten könnte.
Im Ruderclub im italienischen Monate kann sie gut trainieren. Und Abstand nehmen von allem, was geschehen ist. Doch auch hier ist sie nicht unbeobachtet. Jeder weiss, wer die Schweizerin ist – mit ihren blauen Augen, den blonden Locken und dem durchtrainierten Körper.
Beim Training auf dem Ruderergometer erntet sie staunende Blicke von Nachwuchsathletinnen und -athleten. Auch Coach Dowell schaut ihr zu, doch er sagt selten etwas: «Antreiben muss ich sie nie, eher bremsen. Sie ist sehr streng mit sich.» So sieht es aus.
Gmelins Gesicht ist schmerzverzerrt, der Schweiss tropft von ihrer Stirn. Ihr Blick ist fokussiert auf den Mini-Computer vor sich, der Wattzahl, Distanz und Schlagfrequenz anzeigt. In ihren Gedanken zählt sie die Ruderschläge. Eins, zwei, drei. Hundert Schläge sind fünf Minuten. Sechzig Minuten dauert die Einheit …
Solche monotonen Trainings sind hart für den Kopf, aber das brauche ich.» In diesen Situationen lernt sie, sich gegen sich selber durchzusetzen. Und ist damit gewappnet für Widerstände von aussen.
Dieses Wochenende steht ein Highlight an: die Ruder-Europameisterschaft auf dem Rotsee in Luzern. Gmelin startet als Titelverteidigerin. Trotz turbulenter Zeit ist sie in Form. «Von der Fitness her sogar besser denn je», sagt Trainer Dowell. Bei der Feinarbeit im Wasser seien aber noch Defizite vorhanden.
Unabhängig vom Resultat an der EM – Gmelin hat bereits mehrere Siege errungen: «Ich bin mir treu geblieben. Wenn ich nicht gewagt hätte, für meine Überzeugung zu kämpfen, hätte ich es mein Leben lang bereut. Zudem habe ich endlich wieder die mentale Energie, mich körperlich zu quälen.» Und das Allerwichtigste: Sie weiss wieder, was sie in ihrem Leben am liebsten macht.