Es ist ein grosser Tag für die kleine Sokta. Heute reist sie zur Nachkontrolle ins 70 Kilometer entfernte Kinderspital in Siem Reap, trifft den ausländischen Chefdoktor – die Ehrfurcht ist gross. Höchste Zeit also, dass Mutter Tun Da ein paar Vorkehrungen trifft. Die Nachbarin soll ihrer Tochter die Haare flechten, sie selbst kauft ihr auf dem Markt für zwei Tageslöhne ein T-Shirt ohne Löcher.
Dass der Doktor aus der Schweiz kommt und einst für sein Cellospiel berühmt wurde, interessiert hier in diesem kleinen Dorf aus Palmblatt-Hütten natürlich keinen. Eines aber weiss die ganze Nachbarschaft: Seit Soktas Herz im Spital des Doktors geflickt wurde, singt sie. Und das unglaublich laut! Der ältere Bruder verdreht peinlich berührt die Augen, Vater Luon Tuos aber strahlt übers ganze Gesicht. Früher, erzählt er, bekam seine Jüngste nämlich oft kaum Luft. Sie musste im Sitzen schlafen, hustete, schwächelte. Die Eltern konnten sich das nicht erklären, forschten aber auch nicht weiter nach. Auf dem Reisfeld gab es viel zu tun. Erst als Sokta von einem Hund gebissen wurde, liehen sie sich bei den Nachbarn etwas Geld, um per Motorrad-Taxi ins kostenlose Spital zu fahren. Dort entdeckten die Ärzte, rein zufällig, das Loch in Soktas Herzchen. Und schenkten ihr letztes Jahr (die Schweizer Illustrierte berichtete) in der eben erst eröffneten Herzabteilung ein neues Leben.
«Jeder, der in Phnom Penh einen Lamborghini besitzt, soll bitte spenden»
Dr. Beat Richner
Im Kantha-Bopha-Spital beginnt dieser November-Morgen wie jeder andere Tag. Vor dem Eingang bildet sich eine lange Schlange, die Stationen sind bereits überfüllt. Bett 307 auf der Intensiv-Station ICU 2 wird nun doppelt belegt. Neben den sieben Monate alte Ly Houth, er hat Pseudo-Krupp, kommt die achtmonatige Davy. Sie leidet am sogenannten Kantha-Bopha-Syndrom, an ei- ner durch Tuberkulose hervorgerufenen Entzündung kleinster Hirngefässe, die zu bleibenden Schäden oder gar zum Herzstillstand führen kann. Seinen Ärzten sei es gelungen, in einer einzig- artigen Studie dieses Syndrom mit Magnetresonanz-Bildern nachzuweisen, erzählt Dr. Beat Richner auf der Visite, nicht ohne Stolz. «You give cocktail?», fragt er den diensthabenden Arzt, der eifrig nickt. Ein Mix aus Antibiotika, Kortison und Tuberkulosemedikamenten wird Davy retten.
Zeit für Zigarillo und Zahlenstudium. Dr. Richner schiebt seine Brille nach unten, hält sich ein Blatt Papier dicht vors Gesicht. Die Patientenzahlen sind auch heute viel zu hoch, die Spenden viel zu tief. Vielleicht wegen der politisch instabilen Lage nach den Wahlen in Kambodscha, vermutet Richner. Viel- leicht habe man ihn aber auch nur vergessen ... Er steht auf, macht sich auf den Weg zur nächsten Ärztekonferenz. Jetzt nicht aus dem Rhythmus kommen, den Tagesablauf wie immer strikt durchziehen, sonst gerät er ins Nach- denken. Über den Irrsinn des westli- chen Reichtums, die korrupte Politik Kambodschas und darüber, wie es wohl wäre, jetzt mit einem Senioren-Streichquartett am Cheminée-Feuer zu musi- zieren, anstatt einsam in dieser Hitze zu hocken. «Aber mer wänd nöd chlage.» In Momenten wie diesen tut es be- sonders gut, wenn jemand wie Herzpa- tientin Sokta hüpfend und lachend oder, wie es der Kinderarzt ausdrückt, «nach- haltig geheilt» zur Kontrolle erscheint. Und tatsächlich, die Echografie bestätigt es. Die geflickte Stelle an ihrer Herzscheidewand ist dicht, «very good success» – ein toller Erfolg, lobt Dr. Richner seinen Chirurgen. In nicht mal zwei Jahren hat dieser gelernt, Herzoperationen durchzuführen. Ein Team der renommierten ame- rikanischen Johns Hopkins University in Baltimore wird ihn und weitere kambod- schanische Ärzte künftig bei komplizier- teren Fällen anleiten. Eine neue wichtige Partnerschaft, die dank dem in Baltimore tätigen Schweizer Radiologie-Professor Ueli Willi zustande kam. Willi ist einer je- ner alten Zürcher Kinderspital-Kollegen, die Richner bis heute unterstützen und regelmässig nach Kambodscha kommen, um Ärzte weiterzubilden. Viel Zeit hat Richner leider nicht für ihn, auch die Verabschiedung von Sokta und ihrer Mutter – die beiden verbeugen sich dankbar – fällt kurz aus. In fünf Jahren sollen sie zur nächsten Kontrolle kommen. Dann, sagt Richner, brauche es ihn hier hoffentlich nicht mehr.
«Ohne Spenden, ohne Ihre Hilfe haben die Kinder in Kambodscha keine Chance auf eine bessere Zukunft»
Dr. Beat Richner
Die zwei Patienten in Bett 307 können am nächsten Morgen auf die normale Station verlegt werden. Ihren Platz bekommt Srey Rath, 7 Jahre alt, sie wurde von einer Giftschlange gebissen. Eine Dosis Antiserum kostet 300 Dollar, für die Eltern ein Jahreslohn und unbezahlbar. Zwei Tage lang hat ein traditioneller Heiler mit Wurzeln und Blättern sein Glück versucht. Doch Srey Raths Bein schwoll auf die doppelte Grösse an. Da erzählte der Familie je- mand vom kostenlosen Kantha-Bopha-Spital. «Das Mädchen ist bereits wieder stabil, die Schwellung am Bein geht zu- rück», sagt Dr. Richner im Vorbeigehen. Der nächste Termin wartet. Ein Fern- seh-Team des kambodschanischen Staatssenders CNC ist angereist. Ein 75-minütiges Interview wollen sie mit ihm machen. Eine Premiere, wurde doch Kantha Bopha in den hiesigen Medien lange Zeit totgeschwiegen. Man wollte lieber nicht hervorheben, dass ein Schweizer die Gesundheitsversorgung von 85 Prozent aller Kinder über- nimmt, während viele Steuergelder im Korruptionsapparat versickern. Ob er verheiratet sei, will die adrette TV-Dame als Erstes wissen. «Ja», sagt Beat Richner, «mit meinem Cello.» Später, als sie nachhakt, wird er sagen, dass er mit Frau und Kindern nie hätte hier- herkommen können. Vorerst aber, die Kamera läuft, konzentriert er sich auf seine Mission. «Jeder, der diese Sendung sieht und in Phnom Penh einen Lamborghini oder Range Rover besitzt, soll uns bitte Geld spenden!»
Auch in der darauffolgenden Nacht kommt das Kantha-Bopha-Spital nicht zur Ruhe. Vor allem in der Maternité herrscht Hektik, 25 Babys weden zwischen Eindunkeln und Morgengrauen geboren. Eine gute Infrastruktur und Beratung für Mütter und Neugeborene sei die beste Form der Geburtenkontrolle, sagt Richner, als er kurz nach sechs wie- der im Spital-Komplex eintrifft. Bett 307 wird gerade geputzt, gründlich, wie es der Big Boss verlangt. Der 4-jährige Vatana wartet bereits auf dieses Plätzchen, seine Krankenakte ist dick wie ein Buch, und diesmal scheint er sich nicht von seinem Asthma-Anfall zu erholen. Er braucht Sauerstoff und Flüssigkeit, be- kommt später ein Inhalationsgerät für Zuhause. So ein Gerät – Richner sitzt im Foyer seines Spitals mal wieder auf einem Klappstuhl und wälzt Zahlen – sei nicht ganz billig. Rund 60 Prozent seines Jahresbudgets von 40 Millionen Dollar gibt er für Material und Medikamente aus. Nach seinem Weihnachtswunsch müsse man ihn deshalb nicht fragen, sagt er schmunzelnd, als er aufsteht und den Stuhl zusammenklappt. Ja, genau: Er wünsche sich Spenden. Und davon ab- gesehen, er macht eine Kunstpause, wünsche er sich noch etwas: «Grössere Spenden.» Irgendwo müssten doch ein paar grosszügige Billionäre zu finden sein. Dann begibt er sich, leise vor sich hin lachend, wieder auf Visite.